«Der Bundesrat sollte zur Stärkung der Frühen Förderung einen runden Tisch einberufen»

3.10.2019

Auf Anregung von Nationalrat Philipp Kutter (CVP) hat die WBK-N einen Vorstoss eingereicht, der den Bundesrat auffordert, eine Strategie für die frühe Kindheit zu entwerfen. Der Stadtpräsident von Wädenswil sagt im Interview, wie Defizite im Politikbereich der frühen Kindheit angegangen werden sollten. Der 44 Jahre alte Vater von zwei Töchtern spricht auch über die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft.

Philipp Kutter, Nationalrat ZH/CVP
Philipp Kutter, Nationalrat ZH/CVP

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Philipp Kutter: Ich erinnere mich noch gut an ein schmerzhaftes Ereignis: Als ich drei Jahre alt war, geriet ich beim Versteckspiel in ein Brennnesselfeld.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Einen Beitrag zu leisten, um unseren Kindern bestmögliche Startchancen in ihr Leben zu ermöglichen. Ich war besorgt, als ich feststellte, dass es in der Schweiz eine hohe soziale Selektivität im Bildungssystem gibt. Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund, die nicht Zugang zu früher Förderung haben, entwickeln bis zum Eintritt in den Kindergarten sprachliche, soziale und motorische Defizite, die sie gewöhnlich nicht mehr aufholen können. Ich bin aufgewachsen mit der Meinung, dass ein Kind in der Schweiz alles erreichen kann, wenn es will. Studien zeigen nun aber, dass dies nicht mehr der Fall ist. Deshalb setze ich mich für die Frühe Förderung ein – damit Chancengerechtigkeit für alle Kinder erreicht wird.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in Ihrem persönlichen Umfeld wahr und wie setzen Sie sich dafür ein?
Es ist eine tägliche Herausforderung – sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Umfeld. Ich bin Stadtpräsident von Wädenswil. Meine politische Tätigkeit ist ein Stresstest für die ganze Familie. Meine Frau und ich sind beide berufstätig und führen eine kleine Kommunikationsagentur. Wir sind also nicht nur als Ehepaar und Eltern von zwei kleinen Mädchen, sondern auch im Berufsleben ein eingespieltes Team. Aber es ist schon so: Meine Frau leistet den Löwenanteil an der Familienarbeit. Ich arbeite aber daran, diese Situation auszugleichen (lacht).
Auf politischer Ebene müssen wir Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie schaffen und alte Rollenbilder aufbrechen. Teilzeitarbeit muss in der Schweiz salonfähig werden und darf die berufliche Karriere nicht beeinträchtigen. Um Beruf und Familie in Einklang zu bringen, brauchen wir ein umfassendes familien- und schulergänzendes Betreuungsangebot mit Krippen, Mittagstischen, Schülerhorten und Tagesschulen.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Die Weichen für die Entwicklung kognitiver, sozialer und emotionaler Fähigkeiten werden im Alter zwischen 0 und 4 Jahren gestellt. Wir müssen die Defizite eines Kindes frühzeitig erkennen und entsprechende Fördermassnahmen einleiten. Nur so können wir Chancengerechtigkeit schaffen und dafür sorgen, dass alle Kinder ab Kindergarteneintritt gute Aussichten auf Schul- und Bildungserfolg haben. Ich engagiere mich für die Kampagne READY!, weil sie frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung fördert.

Wie nehmen Sie als Stadtpräsident von Wädenswil Einfluss auf eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Wir haben in der Gemeinde Wädenswil ein überdurchschnittlich gutes familien- und schulergänzendes Angebot für Kinder und Jugendliche geschaffen. Fairerweise muss ich sagen, dass unsere Schulen etwas teurer sind als in anderen Gemeinden. Wir bieten auch ein reichhaltiges Freizeitangebot mit Sport- und Kulturvereinen an. Es darf kein Zufall sein, ich welcher Gemeinde ein Kind aufwächst. Ein gewisser Standard sollte in jeder Schweizer Gemeinde angeboten werden.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut? Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
In der Schweiz wird einiges richtig gemacht. Viele junge Menschen bereichern den Arbeitsmarkt, die Jugendarbeitslosigkeit ist im Vergleich zu anderen Ländern relativ gering. Trotzdem stelle ich Schwächen fest: Wir überlassen es dem Zufall, ob Defizite bei Kindern frühzeitig oder zu spät erkannt werden. Deshalb ist es von grösster Bedeutung, Chancengerechtigkeit für alle zu schaffen.

In welcher Verantwortung sehen Sie den Staat?
Der Staat als Hauptanbieter der familien- und schulergänzenden Angebote agiert sehr zurückhaltend, der Bund macht in diesem Bereich meiner Meinung nach zu wenig. Auf Stufe Kanton und Gemeinden läuft es diesbezüglich besser. Ich erlebe die frühe Förderung in Wädenswil ja hautnah mit.

In welcher Verantwortung sehen Sie die Wirtschaft?
Grosse Firmen profilieren sich mit einem familien- und schulergänzenden Angebot, das eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht. Dieses Angebot ist aber längst nicht flächendeckend. Die Wirtschaft und folglich die Unternehmen müssten hier mehr Verantwortung übernehmen und ein Interesse daran haben, sich noch stärker zu engagieren, schliesslich geht es um die Kinder der eigenen Mitarbeitenden. Und in 15 bis 20 Jahren sind genau diese Menschen möglicherweise die eigenen Lernenden oder die eigenen neuen Talente.

Welche zusätzlichen Massnahmen braucht es von Staat und Wirtschaft, damit die Situation im Frühbereich verbessert wird?
Auf nationaler Ebene gibt es im Bereich der frühen Förderung zwar viele Akteure, aber wenig Austausch und Koordination. Wir müssen Klarheit schaffen, wer genau was macht, allgemeingültige Qualitätsgrundsätze festlegen und definieren, was unter früher Förderung und derer Finanzierung verstanden wird. Es macht auf jeden Fall Sinn, wenn auch die Wirtschaft in diesen Prozess eingebunden ist, denn sie kann einen Beitrag leisten, damit die Situation im Frühbereich verbessert wird.

Als Nationalrat und Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK-N) waren Sie massgeblich daran beteiligt, dass das Postulat «Strategie zur Stärkung der frühen Förderung» angenommen wurde. Wagen Sie für READY! eine Prognose – wie geht es nun weiter und welche Erwartungen haben Sie?
Ich erwarte, dass das Innendepartement und Bundesrat Alain Berset dieses Postulat als Chance wahrnehmen und das Thema aufarbeiten. Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Der Bundesrat sollte jetzt einen runden Tisch einberufen mit Vertreterinnen und Vertretern aus dem Bereich der Frühen Förderung und mit ihnen die wesentlichen Fragen definieren: Was läuft gut? Wo sind die Herausforderungen, Risiken, Gefahren und Chancen? Vorarbeiten zu diesem Thema sind zur Genüge geleistet worden. Es gibt ausreichend Studien, die man als Grundlage für diesen nationalen Dialog heranziehen kann.

Ist es realistisch, dass Bundesrat Alain Berset dieses Postulat als Chance wahrnimmt?
Ich bin mir schon bewusst, dass ein Bundesrat eine Menge Dossiers zu betreuen hat. Wir müssen die Sensibilität und Offenheit für das Thema der Frühen Förderung nicht nur beim Bundesrat, sondern auch bei den zuständigen Mitarbeitenden in der Bundesverwaltung wecken. Sie können dem Postulat genauso Wirkungskraft verleihen. Wir müssen vor allem den Druck aufrechterhalten, damit der Bundesrat in seinem Bericht die Leitlinien der Strategie definiert, damit wir nachher in die Umsetzung gehen können.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Es ist schon länger bekannt, dass eine gute Ausbildung die beste Armutsprävention ist. Solange nicht für alle Kinder Chancengerechtigkeit geschaffen wird, werden diejenigen Kinder, die eine frühe Förderung am nötigsten hätten, weiter benachteiligt und Defizite aufweisen, die sie in der Regel nicht mehr aufholen können. Investitionen in die frühe Kindheit bedeuten auch, dass die Armut in der Schweiz weiter zurückgehen wird.

Autor: Thomas Wälti