«Die Evidenz in der Frühen Kindheit ist überragend – nun gilt es zu handeln»

9.06.2021

Prof. Dr. Thomas Zeltner ist Präsident der Schweizerischen UNESCO-Kommission, CEO der WHO Stiftung und seit Beginn des Jahres READY!-Träger. Der ehemalige Direktor des Bundesamtes für Gesundheit erklärt im Interview seine Ideen im Thema Frühe Kindheit und warum sich der Bund stärker engagieren sollte. Er erachtet die Evidenz im Thema als überragend, noch fehle es für den Durchbruch aber an veränderten Werthaltungen und politischen Mehrheiten.

Thomas Zeltner, Präsident der Schweizerischen UNESCO-Kommission und READY! Träger
Thomas Zeltner, Präsident der Schweizerischen UNESCO-Kommission und READY! Träger

Was ist Ihre frühste Kindheitserinnerung?
Es sind heitere Erinnerungen. Ich war damals drei oder vier Jahre alt und spielte mit meinen Geschwistern und Nachbarskindern. Insbesondere sind wir immer wieder mit Begeisterung die Treppen mit Decken heruntergerutscht. Wir fanden das wahnsinnig lustig, meine Eltern natürlich weniger.

Ihre beruflichen Aufgaben sind stark von Verantwortung und hoher Arbeitsbelastung geprägt. Haben Sie aus Ihrer frühen Kindheit Rüstzeug dafür mitgenommen?
Ich durfte in einem harmonischen Umfeld aufwachsen, in dem viel gelacht wurde und ich aufmunternde und lobende Worte erhielt. Dieses wahr- und wichtig genommen werden hat mein Selbstwertgefühl sicher geprägt. Meine späteren Berufserfahrungen haben mich weiter gelehrt, dass sich Kritik häufig nicht an mich als Person, sondern an mich als Funktionsträger richtet. Diese Differenzierung hat mir immer sehr geholfen.

Sie haben zwei Söhne und sind sechsfacher Grossvater: Was haben Sie in diesen Rollen gelernt?
Meine beiden Söhne sind aus der ersten Ehe meiner Frau. Bei Patchwork-Familien ist die Vater- oder Mutterrolle nicht per se gegeben. Das Vertrauen muss erarbeitet werden. Dieser Prozess war für mich herausfordernd und spannend. Als Grossvater merkte ich zudem, dass es schwierig ist, sich zurückzuhalten und einzugestehen, dass man nicht für die Erziehung verantwortlich ist. Ich stelle zum Beispiel eine grosse Veränderung beim Essverhalten zwischen den Generationen fest, in Bezug auf die Wichtigkeit aber auch auf das wählerische Verhalten der Kinder. Das mündet vielerorts in Familienkonflikten.

Sie zitieren gerne das afrikanische Sprichwort: «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.» - wie meinen Sie dies und was bedeutet es für die Schweiz?
Das alte Paradigma, wonach die ersten vier Jahre geschützt sind, funktioniert nicht mehr. Der Mensch ist ein hochsoziales Wesen. Wenn in gewissen Strukturen die Interaktion fehlt, so stehen wir in der Verantwortung, diese soziale Interaktion zu ermöglichen und zu fördern. Wir brauchen Gruppen, um uns weiterzuentwickeln. Darum hat der Mensch auch die Sprache entwickelt, weil wir in Gruppen interagieren wollen. Das ist der Kern des Sprichworts: Kinder brauchen andere Kinder und ein soziales Umfeld, indem sie lernen, sich weiterentwickeln, interagieren, abgrenzen und ein Wir-Gefühl entwickeln können.

Was möchten Sie mit Ihrem Engagement als READY!-Träger erreichen?
Ich habe mich immer für evidenzbasierte Politik eingesetzt. Heute weiss man im Vergleich zu früher, dass die ersten vier Jahre für die Persönlichkeitsentwicklung ungemein wichtig sind. Kinder mit schlechten sprachlichen Fähigkeiten bei Schuleintritt zum Beispiel holen den Rückstand nie mehr auf. In der Schweiz sind wir in der frühen Kindheit noch nicht dort, wo wir sein sollten oder wo andere Länder bereits sind. Veränderungen erfordern drei Punkte: Erstens braucht es Wissen durch Evidenz. Zweitens politische Mehrheiten. Und drittens ein Sensorium für sich verändernde Werthaltungen. Beim ersten Punkt ist die Evidenz im Thema Frühe Kindheit überragend. Bei den weiteren Punkten gilt es Fortschritte zu erzielen. Hier ist READY! eine wichtige Initiative. Vielleicht gelingt es uns, aus READY! eine soziale Bewegung zu machen. Es muss allen klar werden, dass eine Finanzierung in der Frühen Kindheit keine Sozialromantik ist, sondern Investitionen, die sich später auszahlen. Es ist eindrücklich wieviel höher die Chancen für erfolgreiche Bildungskarrieren in Ländern sind, die diesbezüglich gut aufgestellt sind. Zugang und Qualität der Angebote sind entscheidend. Gut unterwegs sind hier Frankreich, Dänemark oder die nordischen Länder generell, die sozialpolitisch schon immer fortschrittlich waren. Die Kita-Preise sind in der Schweiz zum Beispiel noch immer enorm hoch und für viele nicht tragbar.

Warum ist das noch immer so, wo harzt es aktuell in der Schweiz?
Es gilt endlich politisch zu handeln und eine dem Thema angemessene Finanzierung sicherzustellen. Auch wenn die Evidenz vorhanden ist, bleibt dies die Knacknuss. Wir haben in der Schweiz gute Erfahrungen mit Pilotprojekten von Seiten Bund gemacht. Vielleicht sollte ein solcher Ansatz vorangetrieben werden, um zu sehen, was sich bewährt. Vielleicht braucht es aber auch neue, innovative Ansätze und Programme. Kinderärzte sehen zum Beispiel im Vergleich zu Sozialarbeitern unbefangen in familiäre Strukturen hinein. Sie könnten darum viel stärker auch als Frühwarnindikator fungieren. Eine weitere Idee ist etwas nach dem Ansatz “What gets measured gets done”. Vielleicht wäre es interessant, wenn Eltern ihre tägliche Spiel- oder Gesprächszeit messen könnten. Wir messen heute unsere Schritte, warum nicht auch die persönliche Interaktion mit dem Kind, um einen Kompass zu erhalten, ob man diesbezüglich gut unterwegs ist. Mit den heutigen Technologien wäre das problemlos umsetzbar und es würde helfen, die wichtige Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern zu erhöhen. Ich finde wir sollten den Staat, aber genauso auch die Zivilgesellschaft einschliesslich der Eltern in die Verantwortung nehmen.

Einige argumentieren, die Frühe Kindheit sei ausschliesslich Aufgabe der Kantone. Wie sehen Sie die Rolle des Bundes?
Der Bund sollte immer dort aktiv werden, wo man bei wichtigen Themen nicht weiterkommt. Die COVID 19-Krise oder auch die Drogenpolitik der 90er-Jahre, wo zuerst die Kantone in der Verantwortung waren, sind Beispiele dafür. Der Lösungsdruck wurde aufgrund der Bilder der offenen Drogenszene am Letten damals so gross, dass der Bund eine stärkere Rolle zur Verbesserung der Situation einnahm (Anm. d. Red.: Thomas Zeltner war unter anderem Begründer des Viersäulenmodells in der Schweizer Drogenpolitik). Schlussendlich sollte sich die zentrale Frage nicht um Bund oder Kanton drehen, sondern wie wir als Gesellschaft im Thema frühe Kindheit vorankommen können. Stand jetzt können wir auf kantonaler Ebene nicht genügend Kraft entwickeln, um die Situation zu verbessern. Weil das Thema für uns als Gesellschaft so wichtig ist, sollte darum der Bund eine stärkere Rolle einnehmen.

Die Schweizerische UNESCO-Kommission hat 2019 einen Bericht zur Politik der Frühen Kindheit in der Schweiz publiziert und Handlungsfelder definiert (Link). Was hat der Bericht bewirkt?
Er hat in Bundesbern zu einer Debatte geführt und neue Allianzen ermöglicht. Auch wurde ein Bericht vom Bundesrat zum Thema verlangt. Aktuell ist das Thema jedoch noch zu stark in einem Links-Rechts-Schema gefangen. Es gilt gegenüber den Bürgerlichen noch stärker den Nutzen der Investitionen für die Gesamtgesellschaft und insbesondere auch für die Wirtschaft stärker zu unterstreichen und aufzeigen, dass Ziele in der Frühen Kindheit gemeinsam verfolgt werden sollten.

Plant Ihre Kommission weitere Aktivitäten im Thema?
Ich vergleiche die aktuelle Situation mit einem Acker im April: Es wurde ausgesät und die Chancen stehen gut, dass die Schweiz nun vorwärtskommt und wir ernten können. Eine grundlegende politische Veränderung braucht aber Zeit, sogar sehr viel Zeit. Aus meiner Erfahrung im Minimum sieben Jahre. Darum braucht es in der Politik nun Beharrlichkeit. Wir haben daher entschieden, vorerst die weitere Entwicklung zu beobachten. Sofern wir aber feststellen, dass es nicht vorwärtsgeht, werden wir sicher wieder aktiv.

Haben Sie an einen Wunsch rund um das Thema Frühe Kindheit?
Ich wünsche mir zwei Dinge. Einerseits, dass sich Persönlichkeiten stärker engagieren, hinstehen und für die Wichtigkeit des Themas einstehen. Ein Beispiel: Wir sind wohl das Land mit der besten Versorgung für Paraplegiker. Das ist vor allem Guido Zäch zu verdanken, der sich dem Thema angenommen hatte. Zum zweiten hoffe ich, dass die Aufarbeitung der COVID 19-Pandemie nicht so viel Raum in der Politik einnimmt, dass andere Themen wie die Frühe Kindheit die notwendige Aufmerksamkeit verlieren. Hier gilt es gemeinsam dagegen zu halten.

Interview: Claudio Looser