Ganztägige Bildung und Betreuung: Herausforderungen im Früh- und Schulbereich aus städtischer Perspektive

16.03.2022

Die Weiterentwicklung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote geniesst in den allermeisten Städten eine hohe Priorität. Kürzlich hat die Städteinitiative Bildung ein neues Themenpapier publiziert, welches einen Überblick über verschiedene Konzepte von schulergänzenden Tagesstrukturen und Tagesschulen in der Schweiz gibt und Perspektiven für die zukünftige Ausgestaltung von Modellen in Richtung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote vorschlägt. Franziska Ehrler, Leiterin Sozial- und Gesellschaftspolitik des Städteverbands, verweist auf gemeinsame Herausforderungen im familien- und schulergänzenden Bereich und erläutert die offenen Baustellen in der frühen Kindheit aus städtischer Perspektive.

Franziska Ehrler, Leiterin Sozial- und Gesellschaftspolitik Städteverband
Franziska Ehrler, Leiterin Sozial- und Gesellschaftspolitik Städteverband

Frau Ehrler, aus dem Themenpapier lässt sich herleiten, dass wie in der frühen Kindheit auch bei der Tagesschulentwicklung vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Ziel ist. Gibt es weitere Berührungspunkte zwischen früher Kindheit und schulergänzendem Bereich?

Das Themenpapier verweist auf vier aktuelle Diskussionsfelder respektive Herausforderungen in Bezug auf die Weiterentwicklung im Tagesschulbereich:

  • Betreuungs- und Bildungsaufgabe: Die Diskussion um Tagesschulen wird stark unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geführt und erst langsam erhalten pädagogische Zielsetzungen – wie beispielsweise die Stärkung der Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit oder das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler – ein stärkeres Gewicht.
  • Stadt-Land-Gefälle: Der grosse Teil der schulergänzenden Betreuungsplätze werden in den Kernstädten und Agglomerationsgemeinden angeboten, während im ländlichen Raum das Angebot wesentlich weniger ausgebaut ist.
  • Chancengerechter Zugang: Kinder aus bildungsfernen Familien und ausländische Kinder sind in den Tagestrukturen unterrepräsentiert. Also genau jene Gruppen, die erreicht werden sollten, um die Chancengerechtigkeit zu gewährleisten.
  • Vielfalt von Angeboten und Begriffen: Angebote zu vergleichen oder sich darüber auszutauschen ist gar nicht immer so einfach, weil es eine grosse Vielfalt an Angeboten und Begriffen gibt. Oft bezeichnet der gleiche Begriff an verschiedenen Orten unterschiedliche Angebote oder für das Gleiche werden unterschiedliche Begriffe verwendet.

Diese Herausforderungen hat der schulergänzende Bereich meiner Meinung nach mit dem Frühbereich gemeinsam, die Diskussionen sind ähnlich. Hingegen gibt es im Frühbereich spezifische Herausforderungen, die im schulergänzenden Bereich weniger ausgeprägt sind wie beispielsweise der Finanzierungsanteil der Eltern. Im Frühbereich ist der Kostendruck auf die Eltern durch die hohen Elternbeiträge grösser, wodurch auch der Zugang stärker erschwert wird und der negative Erwerbsanreiz ausgeprägter ausfällt. Zudem werden im schulergänzenden Bereich mehr Angebote von der öffentlichen Hand getragen, während im Frühbereich die Mehrheit der Betreuungsinstitutionen eine private Trägerschaft hat.

Wie engagiert sich der Städteverband in dieser Hinsicht?

Der Städteverband fördert den Austausch seiner Mitglieder zu Themen der frühen Kindheit. Insbesondere die Städteinitiative Sozialpolitik und die Städteinitiative Bildung, beides Sektionen des Städteverbandes, bieten ihren Mitgliedern regelmässigen Austausch zu aktuellen Entwicklungen und Erfahrungen auf städtischer Ebene. Zudem vertritt der Städteverband die Interessen der Städte im Bereich der frühen Kindheit in der nationalen Politik.

Wo liegt aus Ihrer Sicht noch Potenzial zur Weiterentwicklung der Politik der Frühen Kindheit in den Städten?

Die Städte investieren viel in die Politik der frühen Kindheit und nehmen eine Vorreiterrolle wahr. Aber auch sie haben noch viel zu tun: In den letzten Jahren haben viele Städte ihr Angebot in der familienergänzenden Betreuung im Frühbereich stark ausgebaut. Dennoch vermag das Angebot die Nachfrage oft noch nicht zu decken. Weitere zentrale städtische Handlungsfelder sind die Vernetzung der Angebote im Frühbereich und die Schaffung von Zugängen. Ziel wäre, dass den Eltern eine lückenlose und gut abgestimmte Versorgung mit Beratungs-, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen zur Verfügung steht von der Geburt bis zum Übertritt in die Schule. Damit alle Eltern Zugang dazu haben, müssen die Angebote niederschwellig und bezahlbar sein.

Wie beurteilt der Städteverband die Bestrebungen der Kantone (Qualitätsempfehlungen) und des nationalen Parlaments (Verstetigung der Anstossfinanzierung, PaIv WBK-N 21.403)? Inwiefern bringt sich der Städteverband hier ein?

Die Bestrebungen des Parlaments sind für die Städte von grosser Bedeutung. Eine nachhaltige Senkung der Elternbeiträge bei der familienergänzenden Kinderbetreuung ist zentral für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und wird sich für die ganze Gesellschaft und alle drei Staatsebenen auszahlen. Dies kann aber nur erreicht werden, wenn der Bund mit einem substanziellen und stetigen finanziellen Beitrag die kantonalen und kommunalen Subventionen in der familienergänzenden Kinderbetreuung ergänzt. Der Städteverband bringt sich nach Möglichkeit aktiv mit Vorschlägen ein, damit eine wirkungsvolle und praktikable Lösung gefunden werden kann.

Der Städteverband ist ebenfalls überzeugt, dass es schweizweit verbindliche Mindeststandards braucht bezüglich des pädagogischen Konzepts, der Aus- und Weiterbildung des Personals sowie des Betreuungsschlüssels, um die Qualität in der familienergänzenden Kinderbetreuung sicherzustellen. Entsprechend begrüsst er die Bestrebungen der Kantone gemeinsame Qualitätsempfehlungen zu erarbeiten und wir haben uns sehr gefreut, dass der Städteverband im Rahmen der Vorarbeiten die Sicht der Städte einbringen konnte.

Das gesamte Themenpapier der Städteinitiative Bildung kann hier eingesehen werden. Die Kurzfassung der Publikation ist hier abrufbar.

Eine Übersicht über die Haltung und die politischen Anliegen des Städteverbandes im Bereich der Politik der frühen Kindheit findet sich im Positionspapier.

Autorin: Camilla Lafranchi


«Ganztägige Bildung und Betreuung in Schweizer Städten - Modelle, Erfahrungen und Empfehlungen» - Das Wichtigste in Kürze

Das Themenpapier konzentriert sich auf den Schulbereich und ist vor allem als Orientierungshilfe für bildungspolitische Entscheidungsträger und Fachpersonen aus Schule und Betreuung zu verstehen. Es zeigt auf, welche Angebote in der Schweiz existieren, welche Vor- und Nachteile sie haben und welche Dimensionen bei der Weiterentwicklung zu berücksichtigen sind. Eine Grunderkenntnis ist sicher, dass die Tagesschulentwicklung in der Schweiz vor allem gesellschaftspolitisch motiviert ist. In erster Linie geht es darum, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Erst in zweiter Linie jedoch zunehmend wird Betreuung auch als Bildungsaufgabe verstanden und weiter professionalisiert.

Grundsätzlich lassen sich im Bereich der Tagesstrukturen zwei Entwicklungsperspektiven identifizieren. Die einen legen den Fokus auf die Schulpädagogik und versuchen, die Betreuungsangebote noch stärker schulnah bzw. -zugehörig auszugestalten. Sie gehen in Richtung einer integrierten Tagesschule. Der andere Weg legt den Fokus eher auf die Sozialpädagogik und den Lebensraum Quartier. Die schulergänzende Betreuung wird dort eher in Richtung eines ausgebauten Freizeitangebots weiterentwickelt und bewusst unabhängig von der Schule gehalten.

Zudem skizziert das Themenpapier entlang zehn bedeutsamer Dimensionen die mögliche Ausgestaltung von Angeboten ganztägiger Bildung und Betreuung im Schulbereich. Diese Dimensionen sind z.B. die Verweildauer, die inhaltliche Rhythmisierung bis hin zur Ausstattung der Räume und der Finanzierung. Sie werden durch Good-Practice-Beispiele aus den Städten veranschaulicht.