Auf Augenhöhe

12.03.2018

Päivi Mutti hilft einer tibetischen Familie bei der Integration. Beim Augenschein in Allschwil wird schnell klar: Die Gastgeberin aus dem Kanton Baselland und Tashi Tsetoptsang sind Freundinnen.

Leckere Zimtschnecken: Aaten, Päivi Mutti und Tashi Tsetoptsang (von links) präsentieren ihre selbstgebackenen Köstlichkeiten.
Leckere Zimtschnecken: Aaten, Päivi Mutti und Tashi Tsetoptsang (von links) präsentieren ihre selbstgebackenen Köstlichkeiten.

Auf diesen Moment hat sich Aaten lange gefreut. Der bald vier Jahre alte Junge aus Tibet darf die Zimtschnecken mit Glasur bestreichen. «Das mache ich sehr gerne», sagt der aufgeweckte Bub und strahlt seine Mutter an. Tashi Tsetoptsang schmunzelt zufrieden. Die 34-Jährige sitzt mit ihrem Sohn am Küchentisch ihrer Gastfamilie in Allschwil im Kanton Baselland. Gastgeberin Päivi Mutti schiebt die Backform mit den Rosetten in den Ofen. «So, jetzt hab ein wenig Geduld», ruft die 54 Jahre alte finnisch-schweizerische Doppelbürgerin dem kleinen Bäckermeister zu. Nach fünf Minuten überprüft Aaten mit einem Blick durchs Backofenfenster, ob die Zimtschnecken schon leicht glänzen. Dann zieht eine andere Schnecke seine Aufmerksamkeit in ihren Bann: «Kommt, lasst uns ‹Tempo, kleine Schnecke!› spielen», fordert der Knirps die Erwachsenen auf. Flugs nimmt er das gesamte Material aus der Schachtel: Spielbrett, sechs grosse Holzschnecken und zwei Farbwürfel. Im leicht verständlichen Würfelspiel geht es darum, die Schnecken am schnellsten ans Ziel zu würfeln. «Dieses Spiel fördert die Konzentration, Farbenkenntnis und regelkonformes Spielen», sagt Päivi Mutti.

Enge Freundschaft mit der Gastfamilie
«Ich bewege mich gerne auf internationalem Parkett. Auch meine zwei Kinder und ich haben als Austauschschüler bei einer Gastfamilie gelebt. Dieser interkulturelle Austausch hat uns geprägt», erzählt Päivi Mutti. Und fügt an: «Mir geht es gut. Ich möchte, dass andere davon profitieren können. Deshalb gehören auch eine Türkin und eine Frau aus Costa Rica zu unserer Familie.» Vor zwei Jahren hat sich die in Helsinki geborene Kauffrau auf ein Inserat des Roten Kreuzes Baselland gemeldet. Das Hilfswerk suchte für das Projekt «Mitten unter uns» (siehe Kasten) eine Gastfamilie, die eine ausländische Mutter und deren zwei Kinder bei der Integration unterstützen würde. Seither unternehmen Päivi Mutti und Tashi Tsetoptsang gewöhnlich einmal pro Woche während rund zwei Stunden etwas gemeinsam – an die Ausflüge in den Tierpark Lange Erlen, an die Feier anlässlich des tibetischen Neujahrsfestes Losar, an den Theaterbesuch «Pippi Langstrumpf» und an das Grittibänzen backen in der Weihnachtszeit erinnern sich die beiden Frauen besonders gerne. «Inzwischen sind wir Freundinnen geworden», sagen sie beide.

Spezieller Wortschatz
Tashi Tsetoptsang ist wissbegierig. Sie nimmt jede Möglichkeit wahr, Päivi Mutti um Rat zu fragen. In Tibet, wo der Buddhismus Staatsreligion ist, lebt man in der traditionellen Grossfamilie mit mehreren Generationen unter einem Dach. «Die Hilfsbereitschaft in der Nachbarschaft ist sehr gross. Die Kindererziehung erfolgt nach weniger strengen Regeln als in der Schweiz», sagt Tashi Tsetoptsang. Um anzufügen: «In der Schweiz sind die Menschen reservierter als in Tibet.» Vor zehn Jahren ist die sympathische und gut Deutsch sprechende Asiatin aus politischen Gründen in die Schweiz geflüchtet. Die ersten fünf Jahre hat sie in Delsberg verbracht, seit 2013 wohnt sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Aaten und Namgyal in Allschwil. Ihre sprachlichen Fortschritte hat sie ohne Frage Päivi Mutti zu verdanken. «Je nach Situation stelle ich einen speziellen Wortschatz zusammen – beispielsweise wenn Tashi zum Arzt gehen muss oder wenn es um rechtliche Fragen bei der Versicherung geht», sagt Päivi Mutti.
Einmal forderte Päivi Mutti Tashi Tsetoptsang auf, einen Deutschaufsatz zu schreiben. Das Thema: «Weshalb suche ich eine neue Wohnung?» Korrigiert wurde die Arbeit mittels WhatsApp-Nachrichten. Ein paar Monate später bewarb sich Tashi Tsetoptsang tatsächlich für eine Sozialwohnung. Und prompt musste sie gegenüber der Behörde begründen, warum sie eine neue Wohnung brauche. «Ich konnte von den Vorarbeiten profitieren. Päivi und das Projekt ‹Mitten unter uns› sind mir eine grosse Stütze. Dafür bin ich sehr dankbar», sagt die Tibeterin. Als sie nach ihrem emotionalsten Moment an der Seite von Päivi Mutti gefragt wird, antwortet Tashi Tsetoptsang mit leiser Stimme: «Einmal haben wir über meine Mutter und meine kleine Schwester gesprochen, die beide noch in Tibet leben. Sie fehlen mir sehr. Päivi hat mich getröstet.»

Tibetische Kultur als Inspiration
«Die Freundschaft zu Tashi bereichert mein Leben. Ich fühle mich geehrt, wenn sie mir ihr Vertrauen schenkt», sagt Päivi Mutti. Und schiebt nach: «Wie Tashi mit Menschen umgeht, fasziniert mich. Wenn mir Tashis Kinder im Migros-Supermarkt strahlend entgegenrennen, geht mir das Herz auf.» In der Küche der Familie Mutti riecht es inzwischen leicht nach Zimt. Aaten schaut durchs Backofenfenster. Die Zimtschnecken glänzen golden. Ein goldiger Augenblick – mitten unter uns.

Welche Schnecke ist zuerst im Ziel?
Welche Schnecke ist zuerst im Ziel? Tashi Tsetoptsang, Aaten und Päivi Mutti (von links) würfeln um die Wette. (Bilder: Thomas Wälti)

«Mitten unter uns»
Das Integrationsangebot «Mitten unter uns» bringt fremdsprachige Kinder und Jugendliche mit deutschsprachigen Gastfamilien und Einzelpersonen zusammen. Gemeinsam wird gespielt, gebastelt, gebacken, geht man nach draussen in die Natur; oder aber es werden Angebote für Kinder oder ein kultureller Anlass in der nahen Umgebung besucht. Vermehrt werden auch Mütter mit Kindern im Vorschulalter begleitet (siehe Text oben). Durch den Austausch erhalten beide Parteien Einblick in eine andere Kultur, und die Kinder aus Migrationsfamilien können spielerisch ihre Sprachkenntnisse verbessern. Die Besuche finden in der Regel einmal pro Woche statt und dauern zwei bis drei Stunden. Der Kontakt zwischen Gastfamilie und Migranten wird mindestens sechs Monate lang aufrechterhalten.
Das Schweizerische Rote Kreuz, Koalitionspartner der Ready!-Kampagne, hat vor über zehn Jahren das Programm «Mitten unter uns» ins Leben gerufen. Es wird bislang in den Kantonen Baselland, Schaffhausen und Zürich angeboten. Im Kanton Baselland sorgen über 100 Freiwillige aus verschiedenen Gemeinden dafür, dass 122 Kindern eine bessere Integration ermöglicht wird. Im Halbkanton treffen sich auch regelmässig erwachsene Migrantinnen und Migranten mit Schweizerinnen und Schweizern, ebenfalls über mehrere Monate hinweg (Salute). Fremdsprachige Frauen nehmen an wöchentlichen Sprachtreffen zur Vernetzung und zur Sprachförderung teil.
«Mitten unter uns» ist für Teilnehmende im Kanton Baselland kostenlos.
Für weitere Informationen steht Ihnen das SRK Baselland zur Verfügung.

Autor: Thomas Wälti