«Die Schweiz ist in Sachen Investitionen in die frühe Kindheit ein Entwicklungsland – wir müssen dringend vorwärts machen, nur schon, um den Fachkräftebedarf zu decken!»

21.09.2022

READY!-Trägerin Kathrin Bertschy ist Nationalrätin und Co-Präsidentin von Alliance F. Sie setzt sich seit Jahrzehnten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein. Im Interview erzählt die Ökonomin, warum Investitionen in die «Frühe Kindheit» volkswirtschaftlich für die Schweiz eine grosse Chance darstellen. Es braucht jetzt dringend eine finanzielle Unterstützung seitens Bund, wie die Initiative der nationalrätlichen Bildungskommission sie fordert.

READY!-Trägerin Kathrin Bertschy, Nationalrätin GLP/BE und Co-Präsidentin Alliance F
READY!-Trägerin Kathrin Bertschy, Nationalrätin GLP/BE und Co-Präsidentin Alliance F

Was ist Ihre frühste Kindheitserinnerung?
Das ist eine schwierige Frage… Eine der frühesten Erinnerungen ist vermutlich die Musik. Meine Grossmutter war Pianistin. Es dürften Klaviersonaten sein, von Schumann oder Schubert.

Sie haben selbst zwei Töchter, ein- und dreijährig. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Ich habe selbst keine pädagogische Ausbildung und schätzte es, dass unsere Kinder in einer wunderbaren Kita professionell mit-betreut werden. Die Kinder werden im Spiel zum logischen Denken angeregt und in der Geschicklichkeit, Kreativität und der Sozialkompetenz gefördert. Als Eltern versuchen wir unseren Kindern viel Freiheit zu geben. Sie sollen ihre eigenen Erfahrungen machen können. Überall wo ihre Sicherheit tangiert ist, sei es im Verkehr oder bei Gewässern, gelten aber sehr klare Regeln.

Wie nehmen Sie den Balanceakt bezüglich Vereinbarkeit von Beruf und Familie wahr?
Ehrlich gesagt: In der Schweiz ist dieser Balanceakt immer noch sehr anspruchsvoll. Wir sind in der gleichen Situation wie zahlreiche Familien, die mitten im Leben stehen und versuchen Kinderbetreuung und Berufe irgendwie unter einen Hut zu bringen. Das fängt bereits damit an, dass die Arbeitszeiten ja oft nicht mit den Öffnungszeiten der Kita-Infrastruktur übereinstimmen. Daher, ja, es ist alles andere als einfach.
Es wird allen Familien mit kleinen Kindern rasch klar, dass in der Schweiz diesbezüglich eine Unterversorgung an Infrastruktur besteht. Dazu kommen die negativen Erwerbsanreize: Familienexterne Kinderbetreuung ist in der Schweiz für viele so teuer, dass sich Arbeiten für die zweitverdienende Person im Haushalt faktisch nicht lohnt. Das zusätzliche Einkommen geht für die Kinderbetreuung und die Steuern weg. Umfragen zeigen auf, dass rund 15% der Mütter mit Kindern gerne mehr arbeiten würden, sprich gerne ein höheres Erwerbspensum hätten, diesen berechtigen Wunsch aber nicht ausüben, weil er nicht bezahlbar oder organisierbar ist. Im 21. Jahrhundert, in einem Land, das sich gerne als Pionierin darstellt, bekannt ist für die Innovationskraft, ist das ein Armutszeugnis.

Weshalb engagieren Sie sich als Trägerin bei READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit und die Themen und Ziele von READY! gehören zu meinen politischen Kernthemen, für die ich mich nun schon seit Jahrzenten engagiere. Eines meiner ersten politischen Geschäfte, noch als Berner Stadträtin, war die Einführung der Betreuungsgutscheine (Subjektfinanzierung) für die Kita-Betreuung in der Stadt Bern. Mit dieser Einführung konnten viele neue Betreuungsplätze geschaffen und die Qualität garantiert werden. Ein wichtige Erfolgsgeschichte! Aber es ist eine Tatsache, dass es in der Schweiz noch immer zu wenig, und zu wenig erschwingliche Betreuungsplätze gibt. Auf so vielen verschiedenen Ebenen besteht immer noch Verbesserungspotenzial. Darum sind Initiativen wie READY! wichtig, denn sie helfen, dass wir weiter vorankommen.

Und kommen wir voran?
Es ist eine Politik der kleinen Schritte. Leider fehlen in der politischen Breite immer noch das Wissen und das Bewusstsein, dass es sich lohnt, in die «Frühe Kindheit» zu investieren. Hier müssen wir von allen Seiten stets wiederholen: Die ersten Jahre sind absolut entscheidend, hier werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Das hat enormen Einfluss auf Beruf, Einkommen, Bildung und somit auf die Struktur unserer Gesellschaft. Es geht um eine wichtige Investition in die zukünftigen Generationen. Es ist frustrierend zu sehen, dass trotz dieser enormen, auch volkswirtschaftlichen Vorteile, kaum Fortschritte erzielt werden.

Warum ist das so?
Wir sind noch immer geprägt von der Wertehaltung, dass Kinder Privatsache seien. In den 80er Jahren haben konservativ-bürgerliche Kreise dieses Narrativ stark geprägt. Kinder sind aber nicht Privatsache. Wenn wir ehrlich hinschauen, sind Kinder immer noch primär Frauensache. Es sind vorwiegend die Mütter, welche die Betreuungsarbeit leisten und den Preis in Form von tieferen Renten und entgangener Karrieren bezahlen. Kinder werden immer noch überwiegend von Müttern, anderen Frauen oder Grosseltern betreut. Das ist ineffizient und auch nicht nur zum Wohl der Kinder. Wir sollten uns gemeinschaftlich engagieren. Die Investitionen in die Kinderbetreuung sind nicht ein Akt der Barmherzigkeit, sondern neben dem Mehrwert für die Kinder auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Wenn wir die Rahmenbedienungen so gestalten, dass Eltern, die erwerbstätig sein wollen, es auch können, haben wir einen positiven Effekt auf unsere Kaufkraft, die Steuereinnahmen und die Sozialversicherungsabgaben. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist es absolut entscheidend, dass wir die Erwerbstätigkeit allen Menschen möglich machen. Diese Haltung müssen wir auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene festigen.

Sie sagten auch schon, dass die Schweiz familienpolitisch ein Entwicklungsland sei. Wie meinen Sie das?
Wenn man die Versorgung an Kitaplätzen, an staatlichen Investitionen in diesen Bereich betrachtet, liegt die Schweiz im Vergleich zu anderen Industrieländern weit abgeschlagen auf den hintersten Plätzen. Wenn wir uns mit den OECD-Ländern vergleichen, sind wir eines der Schlusslichter, was die Investitionen in die Kinderbetreuung geht. Die Schweiz investiert nur gerade 0,2 Prozent des BIP (Bruttoinlandprodukt) in die Frühe Förderung. Für den Erhalt unseres starken Wirtschaftsstandortes ist die Schweiz gefordert, sich in der Kinderbetreuung finanziell stärker zu engagieren. Es fehlen sonst schlicht gut ausgebildete Arbeitskräfte.

Aber mehr Geld hat nicht immer die gewünschte Wirkung?
Richtig, aber in diesem Fall lohnt es sich für die Schweiz gleich doppelt. Auf der einen Seite ist die Erhöhung der Erwerbspensen volkswirtschaftlich notwendig und ein wichtiges Mittel gegen den akuten Fachkräftemangel. Und auf der anderen Seite hilft eine stärkere Finanzierung das Angebot an Betreuungsplätzen zu vergrössern, was mithilft, die Qualität zu verbessern und die Chancengerechtigkeit zu erhöhen. In der Schweiz haben wir das Gefühl, dass mit einer Anschubfinanzierung alle Probleme gelöst werden. Aber das reicht eben nicht. Hemmend sind nicht nur die Infrastrukturkosten für einen Tisch und einen Stuhl, sondern eben auch die wiederkehrenden Betriebskosten, vor allem für qualifiziertes Personal, und das ist ja der grosse Budgetposten.

Wo müsste angesetzt werden?
In der Finanzierung: Die Finanzierung der familienexternen Betreuung ist eine Verbundaufgabe. Es ist wichtig, dass wir jetzt die gesetzliche Grundlage für die finanzielle Unterstützung erarbeiten. Die Initiative der nationalrätlichen Bildungskommission «Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung» verlangt genau dies. Ich bin sehr gespannt auf die Resultate der Anfangs September abgeschlossenen Vernehmlassung. Für mich ist klar, wir schaffen es nur durch eine enge Zusammenarbeit und Finanzierung von Bund, Kantonen und Gemeinden, schweizweit bezahlbare Betreuungsplätze zu schaffen.

Von welchen politischen Vorstössen erhoffen Sie sich entsprechende Impulse?
Die erwähnte Initiative der nationalrätlichen Bildungskommission «Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung» ist die einzige Lösung. Es ist wünschenswert, wenn parallel dazu auf kantonaler Ebene auch das Thema Qualität geregelt wird. Aber entscheidend ist, wer alles mithilft, die Finanzierung sicher zu stellen. Bis heute wurde die Finanzierung innerhalb der föderalen Strukturen hin- und hergeschoben und dies seit Jahrzehnten und mit mässigem Erfolg. Wir führen dauernd Stellvertreterdiskussionen, anstatt die Herausforderung einfach zu lösen. Fakt ist: Es fehlen rund 1.5 Milliarden Franken pro Jahr in der frühen Kindheit. Wenn wir diese Gelder nicht investieren, zahlen wir als Gesellschaft und Wirtschaft einen höheren Preis, das zeigt die Kosten-Nutzen-Analyse, die BAK Basel Economics vorgelegt hat. Sprich: Diese Finanzierung müssen wir jetzt hinbekommen.

Die Vernehmlassungsvorlage zur erwähnten Initiative sieht mit rund 0,5 Milliarden Franken nur ein Drittel von den von Ihnen geforderten Geldern vor. Wie schätzen Sie die Vorlage ein?
Der Vorschlag ist gut und ein Schritt in die richtige Richtung. Es braucht die Grundfinanzierung, damit die Elterntarife gesenkt werden können und es braucht die Finanzierung der verschiedenen Programme zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Auch die Unabhängigkeit der Zahlungen von der Einkommenshöhe ist richtig und wichtig. Aus meiner Sicht ist das Paket aber zu wenig umfangreich. Der Sockelbeitrag zur Reduktion der Elterntarife sollte von 10 auf 20 Prozent erhöht werden. Zielgrösse muss meines Erachtens sein, dass Betreuungsplätze je zu einem Drittel von Bund, Kantonen und Eltern finanziert werden.

Die Wirtschaft und bürgerliche Mehrheit dürfte das anders sehen. Oder wie nehmen Sie die Diskussionen wahr?
Es liegt an uns allen, die Fakten und volkswirtschaftlichen Vorteile einer solchen Investition aufzuzeigen und auch die kritischen Stimmen zu überzeugen. Wir müssen eine Nutzen-, statt eine Kostendiskussion führen. Viele Organisationen, Parteien und Verbände anerkennen mittlerweile die Notwendigkeit. Die Wirtschaft kämpft um Fachkräfte, diese sollten daher nicht «nur» zuhause Windeln wechseln, sondern Beruf und Familie vereinbaren können. Es sind auch alternative Finanzierungsmodelle denkbar. Zum Beispiel kennt man im Kanton Waadt das Modell eines Fonds, bei dem die Wirtschaft substanziell mitfinanzieren muss. Obwohl ich finde: Es ist eine der zentralsten Infrastrukturen der heutigen Zeit, die müssen wir als Staat gemeinsam finanzieren können, wie wir bei Strasse und Schiene schon lange tun. Es kann eigentlich nicht sein, dass die Arbeitgebenden hier einspringen müssen. Wenn wir weiterhin nicht tätig werden in der Finanzierung, wird es aber genau darauf hinauslaufen, dass dann die Arbeitgebenden einen Grossteil der Kosten übernehmen müssen, weil es ihnen ansonsten schlicht nicht mehr gelingt, ihren Fachkräftebedarf zu decken.

Welche Chancen geben Sie der Vorlage im parlamentarischen Prozess?
Diese Vorlage muss gelingen. Die Alternative sind hohe Kosten in der Zukunft und ein System, das kollabiert. Aufgrund des demografischen Wandels werden zusätzliche Pflege- und Vorsorgekosten auf uns zukommen, der Fachkräftemangel wird sich in verschiedenen Berufen weiter akzentuieren. Wir brauchen dringend alle Willigen in der Erwerbsarbeit. Um den erhoffen Effekt zu erreichen, müssen wir es jetzt richtig machen.

Ihr abschliessender Wunsch rund um das Thema Frühe Kindheit?
Lasst uns die benötigten Gelder ab 2023 einplanen. Es lohnt sich für uns alle.

Interview: Claudio Looser