«Es darf nicht sein, dass ein Kind in der ‹falschen› Gemeinde wohnt»

10.04.2019

Die Aargauer Nationalrätin Irène Kälin (Grüne) sagt im Interview, weshalb sie sich für eine Politik der frühen Kindheit einsetzt, spricht über Anfeindungen im Bundeshaus, weil sie ihr Baby mitgebracht hat und zur Verantwortung von Staat und Wirtschaft bezüglich der frühen Kindheit. Die 32 Jahre alte Religionswissenschaftlerin fordert eine nationale Strategie.

Irène Kälin Nationalrätin GP/AG
Irène Kälin Nationalrätin GP/AG

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Irène Kälin: Ich erinnere mich an eine Ungerechtigkeit, die sich in einem Restaurant ereignete. Ich war damals dreieinhalb Jahre alt. Zum Dessert bestellten alle Gäste an meinem Tisch einen Coupe Dänemark – nur ich musste mit einer Kinderglace vorliebnehmen. Das fand ich gar nicht lustig.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Kinder lernen nie so viel wie im Alter zwischen 0 und 4 Jahren. In einer Kita oder Spielgruppe können sie mit ihren Gspändli spielen – das wirkt sich positiv auf die motorischen, kognitiven, sprachlichen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten aus. Jeder Bildungsfranken, den man investiert und jedes Engagement, das man macht, ist in diesen Jahren am wirkungsvollsten. In den ersten Jahren werden die Weichen gestellt für ein ganzes Leben.

Stichwort Chancengleichheit: Welche Rolle spielen dabei Strukturen für kleine Kinder?
Eltern von Kindern, die in einem sozioökonomisch benachteiligten Umfeld aufwachsen, können vom Angebot familienergänzender Betreuung wie etwa Kitas, Tagesfamilien oder Spielgruppen nur bedingt einen Nutzen ziehen. Das ist unhaltbar, denn diese Kinder würden am meisten von der externen Betreuung profitieren. Je nach Finanzkraft einer Gemeinde müssen Eltern bis zu 70 Prozent der Betreuungskosten selbst zahlen. Und damit kommen wir von der Chancengleichheit zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die hohen Kosten führen dazu, dass viele Frauen nach der Geburt des ersten Kindes nur noch, wenn überhaupt, Teilzeit arbeiten und viel Betreuungsarbeit selbst übernehmen. Dabei wäre es aber wichtig, dass Mütter rasch wieder in den Arbeitsprozess eingebunden werden, wenn sie das möchten. Beschäftigung ist das beste Mittel, um nicht von Erwerbsarmut und später von Altersarmut betroffen zu werden. Dazu braucht es aber deutlich günstigere und flächendeckendere Betreuungsangebote.

Im Herbst 2018 sorgten Sie für Schlagzeilen, weil Sie Ihren Sohn Elija wenige Monate nach der Geburt mit ins Bundeshaus nahmen, um wieder an Sitzungen teilnehmen zu können. Sie wurden für dieses Verhalten heftig kritisiert. Was warf man Ihnen denn vor?
Mir wurde vorgeworfen, dass ich eine schlechte Mutter sei, weil ich mein Nationalratsmandat nicht zugunsten meines Kindes niedergelegt habe. Dabei versuche ich nur, meine Aufgaben wahrzunehmen: Einerseits habe ich als Parlamentarierin die Pflicht, an Abstimmungen und Sitzungen teilzunehmen. Andererseits möchte ich für meinen Sohn da sein. Deshalb nahm ich Elija mit nach Bern, und er wurde mir zum Stillen ins Bundeshaus gebracht. Ich bin erschrocken, dass es in einem Milizparlament so viele Vorbehalte gibt, und ich hätte nicht erwartet, dass wir bei der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht einen Schritt weiter sind. Die Politik muss Vorbild sein, hinkt hier aber weit hinter den gelebten Realitäten und den Bedürfnissen von Familien hinterher. Eben wurde die Idee verworfen, das Fumoir im Bundeshaus in ein Wickel- und Stillzimmer umzufunktionieren. Es wäre sinnbildlich gewesen für den Wandel im Parlament bei der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Sind Sie enttäuscht, dass diese Idee gescheitert ist?
Sehr. Nicht primär, weil es nicht das Fumoir sein wird, sondern weil dadurch das Warten auf ein Kinderzimmer weitergeht. Wichtig ist mir, dass es möglichst bald einen Rückzugsort gibt für Familienparlamentarierinnen.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Weil die ersten Lebensjahre eines Menschen die wichtigsten sind. Die Finanzierung der Kitas oder Tagesfamilien ist eine Verbundaufgabe – Bund, Kanton und Gemeinden sind dafür zuständig. Dies führt aber oft zu Zuständigkeitsproblemen. Es braucht eine gemeinsame Vision und eine «Nationale Strategie der Politik der frühen Kindheit» unter Einbezug aller Interessensgruppen, getragen von Bund und Kantonen. Für dieses Anliegen macht sich READY! stark.

Was tun Sie in diesem Bereich konkret in Ihrem beruflichen Umfeld – Sie sind Präsidentin des Gewerkschaftsdachverbandes «ArbeitAargau»?
Im Kanton Aargau gibt es zu wenig Betreuungsangebote. Das ist für Arbeitnehmende eine unhaltbare Situation. Auch für mittelständische Familien sind die Betreuungsausgaben nur schwer erschwinglich. Viele fragen sich, ob es sich lohnt, das Arbeitspensum zu erhöhen, wenn das zusätzliche Einkommen mehrheitlich für Betreuungsausgaben draufgeht.

Sie sind Religions- und Islamwissenschaftlerin. Inwiefern können Sie bei Ihrer Arbeit als Politikerin von Ihrem beruflichen Hintergrund profitieren?
Mein tieferes Verständnis der islamischen Kultur ermöglicht es mir, als Brückenbauerin zu fungieren und Hürden abzubauen. Oft haben Migrantinnen und Migranten grössere Berührungsängste mit unseren Betreuungsstrukturen. Da braucht es Vermittlung. Obwohl jedes Kind von Geburt an ein Recht auf Bildung und bestmögliche Entwicklung hat – unabhängig von seiner Herkunft und dem Portemonnaie seiner Eltern – stelle ich fest: Kinder von Migranten haben nicht die gleichen Bildungschancen. Studien zeigen, dass Defizite, die im Kindergartenalter auftreten, nie mehr aufgeholt werden können. Es ist daher von grosser Bedeutung, dass wir in der Schweiz auch die eingewanderte Bevölkerung aufklären, dass es hier qualitativ hochwertige Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE, die Red.) gibt. Zu einer Politik der frühen Kindheit gehört meiner Meinung nach deshalb auch, dass wir diese Menschen erreichen und sie in unseren Angeboten willkommen heissen.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut?
Auch wenn wir im Vergleich zu führenden Nationen in der FBBE noch etwas nachhinken, so gibt es heute doch in vielen Kantonen und Gemeinden Betreuungsstrategien. Es ist erfreulich, dass Gemeinden, Kantone und private Akteure verschiedene Programme und Massnahmen im Bereich der frühen Förderung geschaffen und umgesetzt haben. Allerdings können nicht alle Gemeinden ihre Bürgerinnen und Bürger gleichermassen unterstützen. Und hier müssen wir ansetzen. Es darf nicht sein, dass ein Kind in der «falschen» Gemeinde wohnt und deshalb nicht von einem entsprechenden FBBE-Angebot profitieren kann.

In welcher Verantwortung sehen Sie den Staat und die Wirtschaft?
Der Staat und die Wirtschaft sind beim Thema FBBE federführend. Beide Akteure müssen ein höchstes Interesse daran haben, dass in der Schweiz genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und Fachkräfte nicht brachliegen. Um das zu erreichen, braucht es zusätzliche Investitionen und ein klares Bekenntnis für eine umfassende Politik der frühen Kindheit in der Schweiz.

Welche zusätzlichen Massnahmen braucht es vom Staat und der Wirtschaft, damit die Situation im Frühbereich verbessert wird?
Neben einer nationalen Strategie braucht es ein Bewusstsein für Qualitätsmanagement. Babys und Kleinkinder zu betreuen, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Man stellt die Weichen fürs Leben nur einmal. Deshalb ist es von grosser Bedeutung, dass die Kinder von Fachpersonen betreut werden, die eine entsprechende Ausbildung haben und auch entsprechend entlöhnt werden. Hohe Qualität hat ihren Preis – das wird in der Schweiz noch massiv unterschätzt, und leider werden an vielen Orten Praktikantinnen als billige Arbeitskräfte ausgenützt. Das ist doppelt falsch.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Ich wiederhole mich gerne: Je früher wir einen Menschen unterstützen und fördern, desto grösser ist die Chance, dass wir Folgekosten – zum Beispiel aufgrund von Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug und Zahlung von Krankengeld – vermeiden können. Das zeigt: Diese Rechnung wird immer zugunsten der frühen Förderung ausfallen.

Interview: Thomas Wälti