«Es stimmt mich nachdenklich, dass wir nicht mehr in die frühe Kindheit investieren, wo doch die Fakten so deutlich sind.»

15.06.2020

READY!-Botschafterin Sandra Locher Benguerel wurde im vergangenen Jahr in den Nationalrat gewählt. Die SP-Politikerin ist zudem in einem Teilzeitpensum als Primarschullehrerin in Chur tätig. Im Interview erzählt sie von den frappanten Unterschieden bei den Kindern, welche sich bereits beim Schuleintritt zeigen. Frühe Förderung sei darum kein Luxus, sondern eine wichtige und zentrale gesellschaftliche Aufgabe für mehr Chancengerechtigkeit.

Sandra Locher Benguerel, Nationalrätin GR/SP
Sandra Locher Benguerel, Nationalrätin GR/SP

Was ist Ihre frühste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Das ist geprägt von Fotoalben. Mit circa drei Jahren habe ich in Solothurn auf einem Hügel Skifahren gelernt. Und mit fünf Jahren ist mir eine Betonplatte auf den Fuss gefallen, mit einem schmerzhaften Bruch von drei Zehen.

Welchen Einfluss hatte Ihre Kindheit darauf, dass Sie heute so erfolgreich sind?
Ich hatte das Glück, dass ich in einem anregenden Umfeld aufgewachsen bin. Meine Mutter war mit mir sehr kreativ: Guetzli backen, mit Salzteig basteln, viel Bewegung. Dreiviertel meiner Kindheit verbrachte ich in der Natur. Das ist etwas vom wichtigsten für die persönliche Entwicklung. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern haben mir vor allem Bildung ermöglicht. Das hat mich geprägt, von den Eltern zu spüren, dass ich mich entfalten und meine eigene Meinung bilden kann.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in ihrem persönlichen Umfeld wahr?
Mein Mann und ich haben unfreiwillig keine Kinder. Das hat mir ermöglicht, mich nebst meinem Berufsleben voll in der Politik zu engagieren. Wir sind umgeben von ganz vielen Kindern und ich habe mich immer als Vertreterin von Frauen gesehen, die sich neben Familie und Beruf nicht auch noch in der Politik engagieren können. Im Grossen Rat in Graubünden war ich eine der wenigen Frauen zwischen 30 und 40 Jahren. Diese Generation fehlt oft in der kantonalen Politik. Zudem war ich während zehn Jahren die jüngste Frau im Parlament, diese Erfahrung hat mich geprägt.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und für eine Politik der frühen Kindheit?
Als Pädagogin habe ich lange 1. bis 3. Klassen unterrichtet und erlebt, wie stark Kinder vom Elternhaus abhängig sind. Die Unterschiede sind bereits beim Schuleintritt aufgrund des sozioökonomischen Umfelds frappant. Es gibt Kinder, die haben zu Buchstaben und Zahlen bereits einen Bezug, andere Kinder überhaupt nicht, weil sie keine Anregung und Impulse erhalten haben. Das können sie kaum mehr aufholen. Es stimmt mich nachdenklich, dass wir nicht mehr in die frühe Förderung investieren, wo doch die Fakten und Chancenungleichheit so deutlich sind.

Wo müsste man ansetzen?
Vor allem bei der frühen Sprachförderung. Das ermöglicht mehr Chancengleichheit beim Start in die schulische Laufbahn. Chur hat zum Beispiel das Modell von Basel-Stadt übernommen. In diesem Thema bin ich auch eine Befürworterin eines Obligatoriums. Zudem ist auch die Elternbildung wichtig. Das Projekt ZEPPELIN von Andrea Lafranchi ist eindrücklich. Das müsste man auf die ganze Schweiz ausdehnen.

Wie ist die Situation in Graubünden und bei Ihrem Arbeitgeber, der Stadt Chur?
In Graubünden herrscht eine hohe Gemeindeautonomie vor. Es gibt viele gute Einzelinitiativen wie das Projekt ping:pong von a:primo in Domat Ems. Im Oberengadin gibt es für die vielen Familien mit portugiesischem Hintergrund gute Sprachförderungsprojekte. Der Kanton Graubünden hat zudem im Sozialamt eine Fachperson, die Strategien formuliert und sich um das Thema kümmert. Aber es fehlt ein flächendeckendes Grundangebot.

Eine ähnliche Situation wie auf Bundesebene?
Genau. Der Bund delegiert an die Kantone und bei uns delegiert der Kanton an die Gemeinden.

Wie müsste es stattdessen sein?
Es braucht ein besseres Zusammenspiel von Bund und Kantonen. Der Bund müsste die Strategie definieren und eine Verbindlichkeit festhalten. Er sollte für die Vermittlung von Fachwissen, für eine gute Koordination, Weiterbildung, Musterkonzepte sowie Begleitung mit Evaluation und Standortbestimmungen sorgen. Der Kanton selbst hat eine Stelle analog zum Volksschulamt, welche in regelmässigem Austausch mit dem Bund zum Thema Frühe Förderung steht. Die Kantone stellen sicher, dass es überall ein Grundangebot gibt. National gedacht haben wir im Idealfall einen Artikel in der Bundesverfassung, der das Anrecht auf frühkindliche Bildung und Betreuung festsetzt.

Warum wird es nicht gemacht?
Politisch fehlt die breite Akzeptanz für die Wichtigkeit der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Darum wird es auf allen Stufen zu wenig konsequent umgesetzt, obwohl Fakten, Argumente und gute Projekte auf dem Tisch liegen. Frühe Förderung ist kein Luxus, sondern eine wichtige und zentrale Aufgabe des Staates. Diese Überzeugungsarbeit muss darum konsequent weitergeführt werden.

Was kann die Wirtschaft beitragen?
Extrem viel. Sie kann Teilzeitarbeitsmodelle fördern und mit gezielten Programmen Frauen im Arbeitsprozess halten. Der Lead und die Verantwortung im Thema liegen aber wie bei der Volksschulbildung beim Staat. Die Wirtschaft kann ergänzen und mittragen und familienfreundliche Strukturen schaffen.

Was wird in anderen Ländern besser gemacht?
Wir haben einen engen Kontakt mit einer Familie aus Schweden. Ich war schon beeindruckt, mit welcher gesellschaftlichen und politischen Selbstverständlichkeit beispielsweise die Elternzeit gilt oder Kitas in jeder Gemeinde vorhanden sind. Der Staat fördert das Thema frühe Kindheit seit Jahrzehnten. Generell sind im Thema die nordischen Länder vorbildlich.

Was hat uns die Corona-Krise in Bezug auf die frühe Kindheit gelehrt?
Sie hat wie mit einer Lupe vergrössert und gezeigt, welche Ungleichheiten in unserer Gesellschaft vorherrschen. Sobald die Kinder zuhause sind, werden die Ungleichheiten verstärkt, in Abhängigkeit vom familiären Umfeld. Mir sind zudem die Arbeitsbedingungen von Kita-Mitarbeitenden wichtig. Heute sind ihre Löhne am untersten Limit im Vergleich zu dem, was sie leisten. Umso kleiner die Schuhe der Kinder, umso tiefer sind die Löhne. Es fehlt eine Arbeitnehmendenvertretung, die sich hier stark macht.

Haben Sie einen abschliessenden Wunsch zum Thema?
Es geht um unsere Kinder und deren Zukunft. Ich wünsche mir, dass breiter akzeptiert wird, dass es unsere Aufgabe als Gesellschaft ist, junge Menschen auf ihrem Lebensweg zu stärken, und zwar von Anfang an. Es darf nicht wohnortsabhängig sein, ob man Zugang hat zu Angeboten in der frühen Kindheit oder nicht.

Autor: Claudio Looser