Im Interesse von Kleinstkindern braucht es dringend innovative Lösungen

29.05.2019

Es geht uns alle etwas an, wie der familiale und institutionelle Alltag von Kleinstkindern zu deren Bedürfnissen passt. Die gute Vereinbarkeit von Familie und Kita oder von Familie und Heim ist für die Gesundheits- und die Bildungsbiografie, wie wir sie Kindern wünschen, unerlässlich. Ein Bericht des MMI und der PH Thurgau.

Im November 2018 war das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) Gastgeberin des jährlichen Herbstmeetings des Kompetenznetzwerks Frühe Kindheit. Zusammen mit den Kolleginnen der Pädagogischen Hochschule Thurgau, die das Netzwerk aufgebaut haben und pflegen, entschieden wir, den Alltag von Kleinstkindern in den Mittelpunkt zu rücken.
45 Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Praxis arbeiteten mit einem Kommunikationsexperten einen Tag lang engagiert am Thema. Das Ziel war, den Anliegen von Babys und ihren Eltern zu mehr Gehör zu verhelfen. Zum Abschluss des Meetings nahmen eine Journalistin und ein Journalist an einer Diskussionsrunde teil.
Wir haben von diesem Tag ein echtes Aha-Erlebnis mitgenommen. In Bewegung kam unser Denken, weil jüngere Kolleginnen und Kollegen am Meeting eine zündende Idee hatten bzw. etwas ausprobierten, was wir – theoretisch – schon lange postulieren: Wenn wir uns vorstellen, was ein Kind genau erlebt und wie es das verarbeiten kann, wird diffuses Unbehagen „plötzlich“ konkret und fassbar.

Kommen Sie bitte mit auf eine kurze Fantasiereise zu den drei Kindern Albert, Anna und Hans:

Albert und Anna feiern beide die nächste Woche ihren ersten Geburtstag:
Albert wurde in seinem ersten Lebensjahr hauptsächlich von seiner Mutter und ab und zu auch von seinem Vater zu Hause betreut. Er hat ausserdem noch seine Paten und drei seiner Grosseltern näher kennen gelernt. In diesem Kreis wird er seinen ersten Geburtstag feiern. Er wird die ganz persönlich ihm geltende Aufmerksamkeit spüren und sich über dem Kuchen mit der ersten Kerze freuen.
Anna lebt seit ihrer Geburt bereits in der dritten Institution: nach ein paar Wochen auf einer Intensivpflegestation für Säuglinge und einem kurzen Aufenthalt in einem Mutter-Kind-Heim wird sie seit neun Monaten in einem Heim für Kleinkinder betreut. Sie wurde in ihrem ersten Lebensjahr bislang von mindestens 17 verschiedenen Personen ernährt, gewickelt, gebadet, getröstet, auf den Arm genommen, in den Schlaf gewiegt und zu Bett gebracht. Sie haben sie angesprochen und manchmal mit ihr gespielt. Einige mag sie, andere weniger. Manche sind wieder verschwunden, so wie sie aufgetaucht sind. Es ist noch unklar, mit wem sie ihren 1. Geburtstag feiern wird. Ihre Mutter, die trotz allem beständigste Person in ihrem Leben, darf sie am Tag davor besuchen kommen.
Hans ist 10 Monate alt und lebt wie heute viele andere Kinder aus der städtischen Mittelschicht:Er wird einen Tag von der Mutter, einen vom Vater, einen Tag von den Grosseltern, zwei Tage in der Kita und am Wochenende vom einem Elternteil betreut. Er lebt also in drei Lebenswelten, muss innerhalb einer Woche mit fünf bis sechs verschiedenen Tagesabläufen zurecht kommen und wird von ca. 8 Personen gewickelt, ernährt, getröstet usw.. Hans schläft rund 13 Stunden pro Tag. Er wacht morgens um halb Sieben auf und ist abends um Acht wieder im Bett. An den Tagen, die er ausser Haus verbringt, ist er um Acht in der Kita oder bei den Gros-seltern. Um halb Sechs holen ihn die Mutter oder der Vater wieder ab. Während der Wechsel schläft er oft.

Das Leben von Anna und Hans weist belastende und bereichernde Gemeinsamkeiten auf: Für beide dürfte es schwierig sein, die verschiedenen Lebenswelten zu vereinbaren: für Anna ist dies aufgrund der einschneidenden seriellen Wechsel so, für Hans aufgrund seines – erst recht für ein Kleinkind – anstrengenden und unüber-schaubaren Alltags. Hans und Anna können jedoch immerhin mit anderen Kindern in Kontakt kommen und vertraut werden. Albert hingegen wächst sehr behütet und unter Erwachsenen auf. Er hatte dabei noch kaum Gelegenheit andere Kinder kennen zu lernen. Kinderwelten bieten jedoch von Anfang an unersetzbar wichtige Erfahrungen – sofern diese von liebevollen, vertrauten, verlässlichen und verfügbaren Erwachsenen begleitet werden.

Die beschriebenen Kinderrealitäten sind erfunden, aber prototypisch für einen erheblichen Teil der Kinder, die in der Schweiz aufwachsen. Die skizzierten Probleme sind gravierend und nicht aus der Luft gegriffen, sondern mit Erkenntnissen, aus Praxis und Forschung belegt.
Hans bräuchte einen beruhigten, überschaubareren Alltag mit einem Rhythmus, an dem er sich orientieren kann. Hilfreich wäre, wenn er pro Woche mehr aber kürzere Tage in der Kita verbringen könnte. Dies würde ihm, seinen Eltern und den Erzieherinnen das Leben vereinfachen und allen zugutekommen.

Anna und andere Kleinstkinder mit einem hoch belasteten Start ins Leben sollten an einem Ort und in verbindlichen Beziehungen ankommen dürfen.
Albert bräuchte Erwachsene, die ihm das frühe Hineinwachsen in Kinderwelten ermöglichen. Gelegenheiten dafür gibt es viele: in der Nachbarschaft, auf Spielplätzen und in Familienzentren, in Spielgruppen und Kitas.

Ausgehend von den drei prototypischen Kinderalltagen postulieren wir Folgendes:

  1. Kleinstkinder brauchen überschaubare Alltage mit Abläufen, die ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechen.
  2. Kleinstkinder brauchen einige wenige vertraute, verlässliche, verfügbare Bezugspersonen, die sie aufmerksam und liebevoll begleiten.
  3. Kleinstkinder in hoch belasteten Lebensumständen brauchen einen Ort, an dem sie Wurzeln schlagen dürfen, wenn möglich begleitet durch ihre Eltern.
  4. Bereits junge Kinder brauchen Kinderwelten, in denen sie mit vertrauten Kindern im Kontakt sein und spielen können.

Das Herbstmeeting 2018 des Netzwerks Frühe Kindheit wurde mit dem Ziel durchgeführt, die Politik der Frühen Kindheit zu einem geteilten Anliegen zu machen. Denn bessere Lösungen im Interesse von Kleinstkindern können wir nur gemeinsam entwickeln, nämlich als Eltern, Fachpersonen und Entscheidungsträger/innen aus Praxis, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik.

*Verfasserinnen des Beitrags und Organisatorinnen des Herbstmeetings Kompetenznetzwerks Frühe Kindheit vom 18.11.2018:
Heidi Simoni, Marie Meierhofer Institut für das Kind MMI
Carine Burkhardt Bossi, Pädagogische Hochschule Thurgau PHTG

Der Beitrag basiert auf dem Editorial im Jahresbericht 2018 des MMI 2018.