«Der Erfolg der Frühen Förderung hängt entscheidend davon ab, ob die Pionierrolle gesichert wird»

5.11.2019

Die Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) gibt Kindern auch in der Verwaltung des Kantons Thurgau eine Stimme. Jasmin Gonzenbach-Katz, Fachexpertin beim Koalitionspartner von READY!, sagt, wo sie bei der Koordination und Zusammenarbeit mit dem Bund und den Gemeinden Verbesserungspotenzial sieht.

Weshalb engagiert sich die Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Jasmin Gonzenbach-Katz: Die Kinder und Jugendlichen brauchen auch in der kantonalen Verwaltung eine Stimme. Als Themenhüterin sensibilisiert die Fachstelle KJF kantonale und kommunale Stellen wie verschiedene Ämter, Schulgemeinden und Politische Gemeinden für eine umfassende Politik der frühen Kindheit und leistet entsprechend Lobbyarbeit.

Welche Aufgaben haben für die Fachstelle KJF höchste Priorität?
Seit bald zehn Jahren verfügt der Kanton Thurgau über ein Konzept für eine koordinierte Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Dieses Konzept hilft, Kontinuität zu wahren und Bewährtes weiterzuentwickeln. Es beschreibt die Ziele und Massnahmen der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik in vier Themenfeldern: Familienförderung, Elternbildung und -beratung, Kinder- und Jugendförderung, Frühe Förderung.
Im Kontext der Familienförderung ist ein Bericht zur Situation der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung in Erarbeitung. Die Analyse wird uns zeigen, wie die Gemeinden ihr Angebot bereitstellen, wie sie es finanzieren und wer sich wo und wie beteiligt. Die Massnahmen der Fachstelle KJF legen den Fokus auf die Frühe Förderung und auf die Kinder- und Jugendförderung. Das Ziel ist, die bestehenden Angebote zu erhalten und bedarfsgerecht auszubauen. Hierfür sind wir für die Gemeinden eine Anlaufstelle und finanzieren Projekte mit. Aktuell ist auch die Bekanntmachung und Umsetzung der Kinderrechte ein Schwerpunkt der Fachstelle KJF.

Was verstehen Sie unter Früher Förderung?
Eltern sind gewöhnlich von Beginn weg die engsten Bezugspersonen eines Kindes. Damit sich ein Kind entwickeln kann, braucht es geeignete Rahmenbedingungen und ein anregendes Lebensumfeld – dazu gehören neben dem unmittelbaren, familiären Umfeld zum Beispiel sichere Kinderspielplätze oder Familientreffs, die in Räumlichkeiten ausserhalb der eigenen Wohnung stattfinden. Für viele Familien sind auch allgemeine Angebote wie etwa Mütter- und Väterberatung, Spielgruppen und Kitas wichtige Akteure. Gleichzeitig müssen entsprechende Angebote bereitgehalten werden für jene Familien, die gezielte Fördermassnahmen brauchen. Dazu gehören zum Beispiel Hausbesuchsprogramme, Logopädie oder auch Heilpädagogische Früherziehung.

Erklären Sie uns bitte das Konzept «Frühe Förderung Kanton Thurgau 2015-2019».
Bei der Frühen Förderung geht es nicht darum, ein Kind möglichst früh zu fördern, damit es beispielsweise mit zwei Jahren schon Schach spielen kann. Das Konzept beschreibt deshalb das Grundverständnis der Frühen Förderung, legt Ziele und Grundsätze fest und definiert vier Handlungsfelder. Gleichzeitig richtet sich das Konzept auch an die Verantwortlichen der Politischen Gemeinden und Schulgemeinden sowie an die Personen in der Praxis der Frühen Förderung. Die vier Handlungsfelder sind: Sensibilisierung und Information, Bedarfsgerechte Angebote der Frühen Förderung, Vernetzung und Zusammenarbeit, Qualität und Weiterbildung.

Können Sie uns zur Illustration ein Beispiel für das Handlungsfeld «Sensibilisierung und Information» nennen?
Zu Beginn der Laufzeit des Konzepts bestand ein grosser Schwerpunkt in der Öffentlichkeitsarbeit. Die Fachstelle KJF war wiederholt an Informationsanlässen sowie kantonalen oder kommunalen Versammlungen präsent. Mittels Referate oder im direkten Kontakt sensibilisierten wir über «Frühe Förderung», was das ist und was nicht, welches die Schwerpunkte des kantonalen Konzepts sind und die Haltung und Ziele, die damit verfolgt werden.

Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit bestand darin, die Angebote in der Frühen Förderung bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Was waren die grössten Herausforderungen, auf die Sie bei der Umsetzung gestossen sind?
Sowohl auf struktureller als auch auf fachlicher Ebene bestehen verschiedene Herausforderungen. Auf der strukturellen Ebene geht es um Klärungen von Rollen und Zuständigkeiten. Es gibt im Bereich der Frühen Förderung in den Gemeinden sehr viele unterschiedliche Angebote. Daher ist es wichtig, dass die Anbieterinnen und Anbieter – also die Fachpersonen – miteinander in einen Dialog treten. Treten diese Anbieter jedoch als Konkurrenten auf, können sie gemeinsame Synergien nicht nutzen. Mit erfolgreichem Networking haben wir diesen Austausch auch auf kantonaler Ebene angestossen, so etwa in der kantonalen Fachgruppe Frühe Förderung, wo Vertreterinnen und Vertreter aus Verwaltung und Praxis miteinander im Kontakt stehen.

Was passierte auf der fachlichen Ebene?
Das Angebot im Bereich der Frühen Förderung ist durch die vielen unterschiedlichen Anbieterinnen und Anbieter sehr heterogen. In den Gemeinden kommen viele Angebote nach lokalen Initiativen zustande. Der Erfolg der Frühen Förderung hängt entscheidend davon ab, ob die Pionierrolle gesichert wird. Wenn diese Personen ihre Tätigkeiten auf einmal nicht mehr weiterführen, ist das Angebot sogleich stark gefährdet. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass dieses Pionierwissen gesichert werden kann und frühzeitig die Nachfolge sichergestellt wird. Die Aus- und Weiterbildung von Personal im Bereich der Sprachförderung oder auch für Hausbesuchsprogramme gehört hier zum Beispiel dazu. Dies ist wichtig, damit die Wirksamkeit und Qualität der Angebote gewährleistet sind.

Wie messen Sie den Erfolg? Lässt er sich überhaupt messen – ist etwa die Erwerbstätigkeit der Frauen im Kanton Thurgau gestiegen?
Wir führen eine Liste der Projekte, die wir mit einer Anschubfinanzierung gefördert haben und können auf diese Weise feststellen, wie viele Kinder eine Spielgruppe, eine Sprachspielgruppe oder einen Eltern-Kind-Treff besuchen respektive wie viele neue Gemeinden über ein eigenes Konzept der Frühen Förderung verfügen. Wir überlegen uns, im Folgekonzept das Monitoring zu verfeinern. Der Bericht zur Situation der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Vorschulbereich wird diesbezüglich interessante Zahlen liefern. Eben sind Zahlen zur Erwerbstätigkeit der Frauen (Frauen zwischen 15 und 64 Jahren, die in der Referenzwoche mindestens eine Stunde in der Woche gegen Entlöhnung gearbeitet haben, die Red.) publiziert worden. Zwischen 1990 und 2017 ist der Anteil von 60 auf 78 Prozent gestiegen. Bei den Männern sank diese Zahl im gleichen Zeitraum von 92 auf 88 Prozent.

Wo sind Sie bei Ihrer Sensibilisierungs- und Informationsarbeit zur Frühen Kindheit auf Resonanz, wo auf Opposition gestossen?
Insbesondere die Fachpersonen begrüssen unsere Sensibilisierungs- und Informationsarbeit zur Frühen Kindheit. Sie fühlen sich in ihrem Engagement vom Vorgehen des Kantons bestärkt. Kritischer betrachtet wurden unsere Empfehlungen betreffend Qualität – die hat ihren Preis – und der Mitfinanzierung der Angebote durch die Gemeinden. Die Herausforderung besteht darin, dass Politische Gemeinden, Schulgemeinden wie auch der Kanton verschiedene Zuständigkeiten haben und gewisse Angebote wie Hausbesuchsprogramme oder Angebote zur vorschulischen Sprachförderung keine gesetzlichen Grundlagen haben. Die Umsetzung der Projekte erfolgt dann entsprechend der Problemlage vor Ort oder kommunalen Konzepten und ist abhängig von der politischen Agenda.

Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen, die auch für andere Kantone wertvoll sein könnten?
Die Zusammenarbeit mit den Gemeinden ist zentral – sie sind die Drehscheiben der Familien – und die persönlichen Kontakte sind enorm wichtig. Mit der Möglichkeit der Anschubfinanzierung besteht von kantonaler Seite zudem die Chance, die fachliche und qualitative Entwicklung der Angebote in den Gemeinden zu unterstützen.

Welches Verbesserungspotenzial gibt es aus der Sicht Ihres Kantons bei der Koordination und Zusammenarbeit mit dem Bund und den Gemeinden?
Der Bund muss Wissen bereitstellen. Der Föderalismus in der Schweiz hat zur Folge, dass viele lokale Initiativen und verschiedenste Angebote bestehen. Für mich war es eine schwierige Aufgabe herauszufinden, welche Gemeinde oder welcher Kanton welches Angebot führt. Diesbezüglich wünschte ich mir strukturierteres Sichtbarmachen der Angebote. So wie auf politischer Ebene mit dem Monitoring von READY!, das aufzeigt, welche Aktivitäten gerade laufen. Auf fachlicher Stufe plädiere ich für eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kantonen in den Bereichen Forschung und Weiterbildung. Auch den Qualitätsstandard müssen wir hochhalten. Diesbezüglich wünschte ich mir zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Bund, dem Verband Kinderbetreuung Schweiz (kibesuisse) und dem Schweizerischen Spielgruppenleiterinnen-Verband (SSLV), die Empfehlungen zuhanden von Kantonen und Gemeinden abgegeben haben. Dafür braucht es auch national eine sektorübergreifende Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, Integration, Bildung und Soziales.

Ihre Bemühungen zielten auch darauf ab, die Qualität der Angebote zu verbessern. Was waren Ihre Herausforderungen und wie sind Sie vorgegangen?
Grundsätzlich geschieht vieles über die Sensibilisierung der Fachpersonen. Ihnen bieten wir Weiterbildungen an, regen zur Vernetzung an und unterstützen sie, für sich und den Wert ihrer Arbeit einzustehen. Denn Qualität hat ihren Preis. Die Arbeit in der Frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung wird oft auch ehrenamtlich geleistet, das Budget für Weiterbildungen ist knapp. Die Gemeinden müssen für dieses Thema mehr sensibilisiert werden, denn sie sind für die Finanzierung und für die Qualität der Spielgruppen und Kitas mitverantwortlich.

Mit Fokus auf die gesamte Schweiz: Welches sind die dringendsten Probleme, die im Bereich der frühen Kindheit gelöst werden müssen?
Es braucht einen Ausbau der gesetzlichen Grundlagen und Klarheit über die Zuständigkeiten im Zusammenhang mit der Finanzierung. Warum kann man nicht Themen, die alle Kantone betreffen, auf einer übergeordneten Ebene lösen, damit die einzelnen Kantone Ressourcen einsparen können? Die gesellschaftliche Entwicklung hat zu einer Pluralisierung der Familienmodelle geführt, die Politik hinkt hier mit ihren gesetzlichen Grundlagen hinten nach. Ich wünschte mir, dass sich die Rechtsetzung vermehrt der Realität angleicht, damit die gemeinschaftlichen Verantwortlichkeiten klar verankert werden können. Ich möchte auch die Rolle der Wirtschaft ansprechen. Es ist stossend, dass es Familien gibt, bei denen beide Elternteile so viel arbeiten müssen, dass kaum ein geregeltes Familienleben möglich ist. Da sehe ich die Wirtschaft in der Verantwortung. Sie muss faire Löhne bezahlen und familienfreundliche Arbeitsbedingungen schaffen.

Welche Rolle könnte der Bund im Bereich der frühen Kindheit einnehmen, und wie würden Fachstellen wie Ihre beziehungsweise die Kantone generell davon profitieren?
Für mich ist die strategische Ausrichtung entscheidend: Wo wollen wir hin? Es braucht fachlich fundierte Ideen – insbesondere bei der vorschulischen Sprachförderung – und eine ganzheitliche Sicht auf die Kinder. Auf Bundesebene wünschte ich mir, dass der Staat auch über den Tellerrand hinausblickt und die internationale Entwicklung beobachtet. Mit einem internationalen Monitoring könnten gelungene Umsetzungsideen übernommen und somit auf Gemeindeebene viele Ressourcen eingespart werden – zum Wohl der frühen Kindheit. Die Kinder könnten von einer professionellen Weiterentwicklung profitieren.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Gelingt es uns nicht, Chancengerechtigkeit für Kinder aus bildungsfernen oder sozio-ökonomisch benachteiligten Familien zu schaffen, besteht das Risiko, dass ein Kind seine Defizite ohne entsprechende Förderung nicht mehr ausgleichen kann. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass Folgekosten entstehen. Deshalb: Je früher und gezielter Investitionen getätigt werden, desto höher ist die Wirkung. Es lohnt sich für alle – für das Kind und die Gesellschaft.

Interview: Thomas Wälti

Die Fachstelle KJF – Stimme für Kinder, Jugendliche und Familien
Die kantonale Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) setzt sich dafür ein, die Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien im Kanton Thurgau weiter zu verbessern. Dabei steht das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen, der Schutz und die Förderung der Familie sowie die Anerkennung ihrer Leistungen im Vordergrund. Die Vernetzung und Koordination sowohl privater als auch staatlicher Angebote in diesen Bereichen gehören zu den Kernaufgaben der Fachstelle.
Die Fachstelle KJF hat ihre Arbeit im Juni 2010 in Frauenfeld aufgenommen, und zwei Mitarbeitende teilen sich 150 Stellenprozente. Die Grundlage bilden die beiden Konzepte der Fachstelle KJF. Die Fachstelle KJF ist dem Generalsekretariat Departement für Erziehung und Kultur des Kantons Thurgau angegliedert.