Erbkrankheit Armut

12.07.2018

Trotz grosszügiger Sozialpolitik hält sich die Armut in reichen Ländern hartnäckig. Das Umverteilen von Geld hilft wenig. Wirkungsvoller wäre die frühe Beschäftigung mit vernachlässigten Kindern. Warum passiert so wenig in dieser Richtung?

Artikel von Christine Brinck vom 12. Juli 2018 in der Weltwoche

Einmal arm, immer arm», sagt der Volksmund, und in der Bibel heisst es: «Es wird nicht fehlen an Armen inmitten des Landes», (5. Mose 15, 11). Sozialgesetze gab es schon in biblischen Zeiten, Almosen waren Pflicht. Verboten war es, die Schwäche der Armen auszunutzen oder diese vor Gericht ungleich zu behandeln. Alle drei Jahre sollte der Zehnte unter den Bedürftigen verteilt werden. Alle sieben Jahre sollte ein Schuldenerlass greifen. Und doch nahm die Armut im alten Israel nicht ab. So kamen die Almosen ins Spiel – nicht als Gnadenerweis, sondern als Anrecht. Jahrtausende sind seither vergangen, doch die Armut bleibt. Egal, wie viel Fürsorge der Staat anbietet, ohne Almosen geht es nicht, ob diese nun «Tafel» heissen oder «Arche» oder ob es die Cents in der Bettlerbüchse sind.

Tut der Staat genug?
Als Präsident Lyndon B. Johnson vor einem halben Jahrhundert das Sozialprogramm «War on Poverty» einleitete, den Krieg gegen die Armut erklärte, verkündete er optimistisch: «Zum ersten Mal in unserer Geschichte ist es möglich, die Armut zu besiegen.» Seitdem hat der Staat Billionen von Dollars in den Kampf geworfen – von der Vorschule («Head Start») bis zur Gesundheitsversicherung für die Armen («Medicaid»). Die Armut haben die Billionen nicht vertrieben. Doch auch im reichen Europa – in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien – gibt es grosse Armut.

Der Staat tue nicht genug, lautet das schnelle Urteil. Doch die riesigen Sozialbudgets haben die Armut nicht zurückgedrängt. Auch nicht in den USA, wo eine Billion Dollar direkt an die Bedürftigen geht. Immer höhere Sozialtransfers sind offenbar keine Lösung, vor allem wenn sie mit der sprichwörtlichen Giesskanne verteilt werden. Umverteilung lindert Not, den Weg aus der Armut in ein selbstbestimmtes Leben weist sie selten. Armut wird immer häufiger «vererbt», von Generation zu Generation weitergereicht und vorgelebt. In Amerika macht gar das Wort von den «Wohlfahrtsdynastien» die Runde. Das heisst: Transferleistungen ebnen nicht den Weg aus der Armut.

An der Universität Chicago liefert James Heckman, Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2000, eine Erklärung dafür: «Bindung und Verständnis sind viel wichtiger für die Entwicklung des Kindes als Geld. Die Masseinheit für Kinderarmut ist nicht Geld, sondern das Defizit an Bindung, Verlässlichkeit, Aufsicht und emotionaler Unterstützung.» Mit andern Worten: «Es ist verrückt, zu glauben, dass tausend Dollar mehr die Probleme der benachteiligten Kinder lösen könnten.» Woher weiss er das? Aus seiner Forschung, denn er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frühintervention bei benachteiligten Kindern. Ziel ist es, Kinder mit sogenannt ererbter Armut frühzeitig zu fördern – am besten im Zusammenspiel mit ihren Eltern, nicht mit der Giesskanne.

«Die Ober- und die Mittelschicht investieren grosszügig in ihre Kinder», meint er, dies sei der sinnvolle Weg. Es gehe nicht primär um Tennis- und Klavierstunden, sondern um Arztbesuche, ein verlässliches Frühstück oder gemeinsame Gespräche. Intakte Familien, sagt Heckman, investierten weit mehr in ihre Kinder als Alleinerziehende. In Deutschland leben sechzig Prozent der Kinder, die Sozialgeld erhalten, mit nur einem Elternteil. Was in solcher Situation nicht passiert, berichtet ein Londoner Kinderarzt. Er hatte mit einer Mutter gesprochen, deren Kleinkind mit der Lautbildung Probleme hatte. «Reden Sie mit dem Kind?», fragte er. «Nein, er redet nicht mit mir, warum soll ich dann mit ihm reden?» Das ist Armut, der mit Geld nicht beizukommen ist.

Vor Jahrzehnten zogen zwei Forscher, Betty Hart und Todd Risley, in den USA los und zeichneten Monat für Monat bei 42 Familien mit einem sieben bis zwölf Monate alten Baby Kommunikation und Umgang auf, insgesamt 1300 Stunden lang. Es zeigte sich ein greller Kontrast im Wortschatz der Kinder je nach Herkunft. Kinder aus der Unterschicht hatten einen Wortschatz von 500 Wörtern. In Arbeiterfamilien waren es schon 700, bei den gut Ausgebildeten 1100. Ein solcher Vorsprung kann kaum mehr aufgeholt werden. Bessergestellte Familien redeten mehr und ausführlicher mit ihren Kindern. Sie sprachen auch weniger Verbote aus.

Ausdauer, Zielstrebigkeit, Neugier
James Heckman spricht hier vom «Unfall der Geburt». Wer kann sich schon aussuchen, in welche Familie er hineingeboren wird? Heckman war nach der Auswertung von Bergen von Daten überwältigt von der Macht der soziokulturellen Unterschiede. Die Defizite oder Fähigkeiten der Achtzehnjährigen waren offenbar bereits in ihnen als Fünfjährigen angelegt. Die entscheidende Rolle spielte dabei die Bildung der Mutter. Pauschal ausgedrückt: Je belesener die Mutter ist, desto weiter kommt das Kind. Bis zum fünften Lebensjahr wird angerührt, was in späteren Jahren aufgeht oder zusammenfällt.

Ist denn das Schicksal in Stein gemeisselt? Nein, es scheint, dass frühe Bildungsintervention lange vor der Schulpflicht die Lage ändern und die Kinder aus ihrer unverschuldeten Armutsfalle befreien kann. Aber wer soll das bezahlen? Im Grunde finanzieren sich diese Interventionen selber, denn die Ressourcen, die in die frühkindliche Bildung investiert werden, werfen langfristig eine weitaus höhere Rendite ab als das Geld, das der Staat viel später, etwa nach dem Schulabbruch, für sozialpolitische Stützung ausgibt.

Dies zeigt sich in Langzeit-Interventionsstudien, wie der Perry Preschool Study (Michigan) oder im Abecedarian Early Intervention Project (North Carolina). Beide Projekte galten unterprivilegierten Kindern. Perrys Zielgruppe waren Drei- und Vierjährige, Abecedarian förderte Kinder vom Säuglingsalter bis zum dritten Lebensjahr. Beide Studien arbeiteten mit Kontrollgruppen gleicher Zusammensetzung und werden seit mehr als vierzig Jahren laufend ausgewertet. Die Lebensläufe der einst geförderten Kleinen dokumentieren bis heute die segensreiche Wirkung: Jeder früh investierte Dollar wirft siebzehn Dollar Ertrag ab, etwa weil die Zöglinge später häufiger Jobs haben und Steuern zahlen als die nicht Geförderten.

Unglücklicherweise wurden jahrelang nur die kognitiven Gewinne (in IQ-Punkten) gemessen. Die Bilanz schien wenig beeindruckend, weil sich die Fortschritte nach dem zweiten Grundschuljahr zu verflüchtigen schienen. Inzwischen wird das Ganze breiter angeschaut, und siehe da: Was den Kindern in höheren Schuljahren und im späteren Leben am meisten geholfen hat, sind demnach das Erlernen sozialer Kompetenzen, Konzentration, Gewissenhaftigkeit, Ausdauer, Verantwortungsbewusstsein, Zielstrebigkeit, auch Neugier. Ältere Jugendliche dagegen, die in staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogrammen landen, lernen solche Fähigkeiten in diesem Alter offenbar nicht mehr, dann ist es zu spät.

Frühintervention ist also das Rezept, um die Spirale der Armutsvererbung zu durchbrechen. Damit ist freilich nicht die kostenfreie Kita gemeint, sondern die anspruchsvolle Krippe mit sehr kleinen Gruppen, bestens ausgebildeten Erziehern und angeschlossenem Elternprogramm. Das ist teuer. Doch wie gesagt: Die Renditen sind sehr hoch, denn geförderte arme Kinder haben häufiger die Schule abgeschlossen, in der Ausbildung durchgehalten, Jobs bekommen, häufiger geheiratet, gesünder gelebt, Drogen öfter vermieden als die Kinder der Kontrollgruppe, die nicht so frühzeitig auf das Leben vorbereitet worden waren.

Bleibt also die Frage, warum es nicht in aller Welt solche früh eingreifenden Perry-Programme gibt, wenn die Wirkung so überzeugend ist? Heckman meint: «Das wahre Problem ist die Komplexität des Arguments, wenn Kleinkindpflege als Bildung verstanden wird.» Er fügt aber hinzu: «Es ist nun mal so, dass wir eine kostenorientierte Regierung haben, nicht eine, der es um Wertesteigerung geht.» Sein Kollege von der Universität Zürich, Ernst Fehr, erklärt die Zurückhaltung bei der Implementation von früher Bildungsintervention politökonomisch wie auch investitionsbedingt: «Kinder haben kein Stimmrecht und jene, die direkter von Investitionen profitieren würden – die bildungsfernen Schichten –, haben generell weniger Gewicht im politischen Prozess.» Hinzu kommt aber das Problem des Zeithorizonts, denn, so Fehr: «Die Erträge für die Gesellschaft fallen erst sehr langfristig an und haben damit im politischen Prozess weniger Gewicht – es lassen sich kaum Emotionen mit frühkindlicher Betreuung mobilisieren, welche bei Wahlen eine Rolle spielen könnten. Mit Investitionen in den Grenzschutz zur Vermeidung von Migration – da lässt sich Support mobilisieren!»

Doch selbst wenn wider Erwarten derlei Interventionsprogramme schon morgen aufgelegt würden, bliebe vorerst der Sockel der Armut ihrer Eltern und Grosseltern. Es gibt inzwischen neue Theorien, warum Armut so hartnäckig ist. Den Kern bildet das Wörtchen Stress. Martha Farah von der University of Pennsylvania hat herausgefunden, dass der «Arbeitsspeicher» – das Gedächtnis – von Kindern, die in Armut gross wurden, kleiner ist als der von Kindern der Mittelschicht. Die Fähigkeit, Informationen zu speichern, ist unabdingbar für das Erlernen von Sprache, für das Lesen und die Bewältigung von Problemen.

Die Forscher Gary Evans und Michelle Schamberg von der Cornell-Universität glauben, dass die reduzierten Gedächtnisleistungen der Armen auf Stress zurückzuführen sind, der die kindliche Hirnentwicklung bestimmt. Die untersuchten Siebzehnjährigen, die ihr Leben in Armut verbracht hatten, konnten durchschnittlich 8,5 Gegenstände jederzeit abrufen, die aus der Mittelschicht brachten es auf 9,4. Stress verändert die Botenstoffe, die die Signale im Gehirn steuern. Stress reduziert das Volumen des präfrontalen Kortex und des Hippocampus. Hier wohnt sozusagen der Arbeitsspeicher, den wir Gedächtnis nennen.

Sieben Jahre kürzere Lebenserwartung
Was hat das mit vererbter Armut zu tun? Kinder, die ein Leben mit viel Stress verbringen, tun sich schwerer mit dem Lernen. Armut ist weniger eine Frage des Mangels an Materiellem als eine solche des Überflusses an Problemen. Menschen auf der untersten Stufe der sozialen Hackordnung erfahren nachweislich mehr Stress als die weiter oben. Sie werden auch öfter krank. Forscher wie der Epidemiologe Sir Michael Marmot vom University College London haben diese Art von psychischer Benachteiligung früh beschrieben. Sozialstatus und Gesundheit laufen mehr oder weniger parallel, Menschen in armen Vierteln haben eine sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als Menschen in wohlhabenden Gegenden.

Was ist also zu tun? Ein Anfang wäre es, die Kinder der Armen früh in intelligenten Kleinkindprogrammen zu fördern und so den «Unfall der Geburt» auszuhebeln. Das ist nicht nur gut für die Kleinen, sondern auch für die ganze Gesellschaft, wie auch die Forschung belegt: Wer früh interveniert, durchbricht die Spirale der Armut, die immer wieder neue Armut erzeugt. «Die Aufgabe kann nur lauten – dranbleiben», so Ernst Fehr, «weil steter Tropfen auch Steine aushöhlen kann.»

Dieser Artikel von Christine Brinck erschien am 12.07.2018 in der Weltwoche.