«Bei der Frühen Förderung ist immer die Familie der erste und wichtigste Ort»

26.08.2019

Die Thurgauer Regierungsrätin Monika Knill (SVP) spricht im Interview über das umfassende und massgeschneiderte Angebot bei der Frühen Förderung, Zuständigkeiten von Bund, Kanton und Gemeinden sowie die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft. Die 47 Jahre alte Mutter von zwei erwachsenen Töchtern will die verschiedenen Akteure in die Verantwortung nehmen, darunter auch private Anbieter sowie die Wirtschaft.

Monika Knill, Regierungsrätin des Kantons Thurgau
Monika Knill, Regierungsrätin des Kantons Thurgau

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Monika Knill: Ich erinnere mich an zwei Ereignisse aus meiner frühen Kindheit: An ein Schreckgespenst, das anlässlich der Wiler Fasnacht herumgeisterte und an ein Röntgengerät in einem Schuhladen. Es durchleuchtete meine Füsse und zeigte an, ob mein grosser Zeh vorne anstösst. Wie alt ich damals gewesen bin, weiss ich nicht, ganz sicher unter 4 Jahren.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Bei der Frühen Förderung ist immer die Familie der erste und wichtigste Ort. Im Alter zwischen 0 und 4 Jahren wird das Fundament für kognitive, soziale und emotionale Fähigkeiten gelegt. Die Frühe Förderung ausserhalb der Familie muss daher definiert und abgegrenzt werden. Die Rolle des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft bleibt flankierend und unterstützend. Wir müssen Chancengerechtigkeit erhöhen und Familien ergänzend, anreichernd oder durch Dritte unterstützen. Frühe Förderung ist ein komplexes Thema. Es gibt keine Standardlösung, wie man Kindern beim Start ins Leben bestmögliche Chancen einräumen kann. Wir haben aber an vielen Orten bereits ein breites À-la-carte-Angebot, aus dem die Familien bei Bedarf die individuell beste Lösung auswählen können.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in Ihrem persönlichen Umfeld wahr?
Ich stelle fest, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesellschaftspolitisch an Bedeutung gewonnen hat. Der Stellenwert und die Akzeptanz der neuen Familienmodelle steigen. Es ist zunehmend selbstverständlich, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes weiterarbeiten. Aber auch hier gibt es nicht die Lösung, auch hier bringt ein umfassendes À-la-carte-Angebot Orientierung. Familiäre und nachbarschaftliche Strukturen können für den Einzelnen ebenso bedeutend sein wie familienergänzende Kinderbetreuung.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Als Chefin des Bildungsdepartementes des Kantons Thurgau nehme ich wahr, dass das Thema der Frühen Förderung in der Politik angekommen ist. Es wird rege diskutiert, warum es sich lohnt, in die frühe Kindheit zu investieren – gerade vor dem Hintergrund, dass wir bei Kleinkindern in den letzten Jahren zunehmend sprachliche Defizite und Verhaltensauffälligkeiten festgestellt haben. Mit meinem Engagement bei READY! möchte ich Menschen für dieses Thema sensibilisieren. Die Frühe Förderung ist ein wichtiges Geschäft auf meiner politischen Agenda. Es geht um Rollenklärungen gegenüber der Gesellschaft; um Zuständigkeiten von Bund, Kanton und Gemeinden sowie von staatlichen und privaten Akteurinnen und Akteuren, die es zu koordinieren gilt und um die subsidiäre Aufgabe des Staats. Nicht vergessen dürfen wir die Wirtschaft. Sie muss für die Frühe Förderung nicht nur sensibilisiert, sondern ihr muss auch eine aktive Mitwirkung zustehen. Die Folgen spürt auch die Wirtschaft über ihre Arbeitnehmenden und über ihre künftigen Fachkräfte.

Was tun Sie in diesem Bereich konkret in Ihrem Kanton?
Wir haben im Kanton Thurgau 2010 die Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) gegründet, um die Interessen der Departemente und Fachstellen zu koordinieren. Mit diesem gebündelten Wissen berät die KJF nun jene Akteurinnen und Akteure, die sich mit diesen Themenfeldern befassen. Entscheidend ist für uns aber nicht nur, dass wir eine entsprechende Fachstelle geschaffen haben. Wir haben ein Konzept erstellt, das die Frühe Förderung inhaltlich definiert und etwa die Frage beantwortet: Was wollen wir mit welchen Akteuren machen? Gegenüber Politik und Wirtschaft können wir unser Engagement nur vertreten, wenn wir aufzeigen, dass es keine Doppelspurigkeiten gibt. Ich möchte ein Beispiel erwähnen.

Bitte schön.
Parallel zu unserer gemeinsamen Zusammenarbeit mit den Akteuren der Frühen Förderung hat eine grenzüberschreitende Kooperation zwischen der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) und der Universität Konstanz stattgefunden. Im Jahr 2011 wurde ein binationaler Masterstudiengang Frühe Kindheit aufgebaut. Ziel des Masterstudiengangs ist es, Fachpersonen auszubilden, die wissenschaftlich denken und arbeiten sowie Erkenntnisse für die Praxis aufbereiten können. Der Studiengang ist interdisziplinär konzipiert, orientiert sich am aktuellen internationalen Forschungsstand und berücksichtigt explizit Folgerungen für die praktische Tätigkeit im Kontext der Frühen Förderung. Dank dieser Zusammenarbeit ist ein riesiges Netzwerk entstanden. Plakativ könnte man sagen: PHTG und Uni Konstanz sind im Bereich der Wissenschaft Hotspots der Frühen Förderung.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut – können Sie ein paar Beispiele nennen?
Im Bereich der frühen Kindheit sind wir konzeptionell hervorragend aufgestellt. Bereits vor der Geburt ihres Kindes können die Eltern von einem grossen Angebot profitieren. So gibt es etwa Schwangerschaftsgymnastik, Mütter- und Väterberatung, Geburtsvorbereitung und Wochenbett. Das entsprechende Personal ist gut geschult. Auch im Bildungsbereich ist die Grundversorgung vorzüglich, ich denke etwa an die heilpädagogische Früherziehung mit Logopädie, Psychomotorik und den Beratungsstellen. Aber wie schon erwähnt: Die Kunst ist es, wie man die unterschiedlichen Angebote koordiniert, bedürfnisgerecht weiterentwickelt und damit auch Doppelspurigkeiten vermeidet. Es gilt auch zu unterscheiden von allgemein zugänglichen Angeboten oder selektiven oder gar indizierten Bereichen.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf – was funktioniert in diesem Bereich nicht optimal und müsste verbessert werden?
Es braucht eine gewisse ordnende Hand, um das Zusammenspiel aller Akteurinnen und Akteuren im Bereich der Frühen Förderung zu gestalten, schliesslich werden Steuergelder dafür investiert. Jedes Angebot, das neu entsteht, muss eingebettet sein in ein grosses Ganzes. Wir müssen eine gemeinsame Bildungs- und Gesellschaftspolitik betreiben und gemeinsam die Ziele ansteuern. Es wird eine gewisse Diskrepanz bleiben zwischen wünschbaren und machbaren Möglichkeiten. Es braucht Zeit und auch kleine Schritte vorwärts entfalten Wirkung.

In welcher Verantwortung sehen Sie den Staat?
Der Staat muss immer subsidiär agieren. Die Eltern sind nach dem Zivilgesetzbuch Art. 301 in der Hauptverantwortung. Parallel gibt es aber gewisse Bereiche, etwa bei Medizin und Bildung, die dem Staat eine besondere Rolle in der Grundversorgung übertragen. Gefragt sind deshalb auch staatliche Expertisen im Bereich der Frühen Förderung, wie es auch im Bildungswesen der Fall ist. Je niederschwelliger das Angebot oder die Beratung sind, desto besser.

In welcher Verantwortung sehen Sie die Wirtschaft?
Die Wirtschaft, und damit meine ich die Arbeitgeber, muss grösstes Interesse daran haben, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gelingt, denn sie will einerseits über gesunde und motivierte Arbeitskräfte verfügen und andererseits dem Fachkräftemangel einen Riegel schieben. Die Wirtschaft steht in der Pflicht, gewisse Angebote anzubieten, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unterstützen. Blicken wir einmal zurück in die Zeit der Industrialisierung: Damals sorgte die Wirtschaft dafür, dass genügend Frauen in den Fabriken arbeiten konnten. Die Unternehmer waren angewiesen auf die weiblichen Arbeitskräfte und stellten diesen familienergänzende Kinderbetreuung zur Verfügung. 150 Jahre später befinden wir uns in einer ähnlichen Situation, bloss mit anderen Voraussetzungen: Die Wirtschaft ist wieder darauf angewiesen, fachlich gut ausgebildete Berufsleute zu haben. Allerdings haben wir im Unterschied zu früher andere Arbeits- und Familienmodelle und eine vitale Rentnergeneration, die einen grossen Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie leistet.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Befassen wir uns einmal mit der aktuellen Situation in den Kindergärten und Schulen. Mit sehr grossem finanziellem und fachpersonellem Aufwand werden sprachliche, motorische und soziale Defizite im Schulalter aufgefangen. Hätten wir von Anfang an gezielt in die frühe Kindheit investiert und damit für betroffene Kinder eine bessere Chancengerechtigkeit geschaffen, hätten wir diese Konstellation heute nicht in diesem Umfang. Es lohnt sich deshalb, in die frühe Kindheit zu investieren.
Und ich erwähne es gerne nochmals: Das darf nicht zum staatlichen Selbstzweck erfolgen. Vielmehr können der Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft aber einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Kindern ein guter Start ins Kinderleben gelingt und sie später als junge Menschen zu einer stabilen Gesellschaft beitragen, selbstbestimmend ihr Leben bestreiten vermögen und als gut ausgebildete Fachkräfte ihr Know-how zur Verfügung stellen.

Autor: Thomas Wälti