Christoph Eymann: «Meiner Tochter erzählte ich jeden Abend eine Geschichte. Ihr war es wichtig, dass es selbst erfundene und nicht abgelesene Geschichten sind»

1.06.2017

Der Basler LDP-Nationalrat Christoph Eymann sagt im Exklusivinterview, warum er die Kampagne Ready! unterstützt, spricht über seine erste Kindheitserinnerung, Gute-Nacht-Geschichten als festes Familienritual und die Bedeutung des Kindergarten-Obligatoriums ab 4 Jahren. 10 Fragen – 10 Antworten.

1. Was ist Ihre erste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Ich erinnere mich gut, wie ich als kleiner Bub mit einem Holzpferd und einem Wagen auf dem Boden in unserer Wohnung gespielt habe. Das Muster und die Linien des Parketts dienten mir als Wege und Hindernisse. Als ich 2 Jahre alt war, zogen wir aus dieser Wohnung aus. Die Erinnerung reicht also tief in die frühe Kindheit zurück.

2. Wie und von wem wurden Sie in der frühen Kindheit gefördert?
Gefördert und geprägt wurde ich von meinen Eltern und von meinem drei Jahre älteren Bruder. Seit meiner Geburt war er mir Wegbegleiter und Vorbild. Er hat seine Rolle auch immer so verstanden – bis heute verbinden uns starke Bande. Die Mutter hat uns oft erzählt, dass mein Bruder zu keinem Zeitpunkt eifersüchtig war, sondern mich voller Freude und Stolz in unserer Familie willkommen geheissen hat.
Unser Familienmodell war so, dass meine Mutter für die Söhne da war. Mein Vater hingegen war beruflich stark eingespannt und viel unterwegs, aber er hat uns Kindern jeden Abend eine Geschichte vorgelesen. Es war ein festes Ritual in unserer Familie, das uns viel bedeutet hat.

3. Wie fördern / förderten Sie Ihre eigenen Kinder?
Ich habe drei Kinder. Zwei von ihnen leben bei meiner ersten Partnerin, eines bei meiner Frau und mir. Das Fördern der beiden Kinder, die ich nicht jeden Tag sehe, ist natürlich anspruchsvoller. Ich nutze dafür die Wochenenden umso intensiver, bin an diesen präsent, und nehme mir Zeit. Es bedeutet mir viel, dass meine drei Kinder sich nicht als Halbgeschwister verstehen, sondern als vollwertige Geschwister. Und dafür, dass sowohl meine erste Partnerin als auch meine Frau stets das Wohl der Kinder hochgehalten haben, bin ich beiden Müttern sehr dankbar.
Wichtig ist mir, mit allen drei Kindern individuell Zeit zu verbringen. Einmal pro Jahr verreise ich mit jedem meiner Kinder übers Wochenende – nur zu zweit.
Auch trage ich Werte, die mir als Kind viel bedeutet haben, weiter. Meiner Tochter erzählte ich – wie einst mir mein Vater – jeden Abend eine Geschichte. Ihr war es dabei stets wichtig, dass es selbst erfundene und nicht abgelesene Geschichten sind.

4. Wie nehmen Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Ihrem beruflichen Umfeld wahr?
Als meine Kinder klein waren, war ich als Direktor des Gewerbeverbands Basel Stadt und später als Regierungsrat stark eingespannt. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war nur durch den Verzicht meiner Frau auf eine eigene Karriere möglich. Da gab es sicher Defizite meinerseits, was die Möglichkeiten der Mitwirkung in der Familie und die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten meiner Frau anbelangt. Es war und bleibt leider schwierig, in Kaderpositionen Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

5. Warum engagieren Sie sich für Ready! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
In meiner langjährigen Tätigkeit als Vorsteher des Erziehungsdepartements in Basel Stadt sowie als Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz habe ich zahlreich und detailliert Einblick in verschiedenste Familien in der Schweiz erhalten. Dabei habe ich leider auch zu viele Kinder gesehen, die nicht gefördert, erzogen und begleitet wurden. Kinder, deren Eltern tagsüber abwesend waren. Diese Kinder verbrachten den ganzen Tag mit ein paar Schokoladenriegeln vor dem Fernseher. Dies tat mir sehr leid und beschäftigte mich nachhaltig. Fakt ist, dass gewisse Defizite, die in den ersten vier Lebensjahren geschehen, später in der Schule oder im Kindergarten nicht wiedergutgemacht werden können. Für diese Kinder gibt es keine Chancengerechtigkeit. Sie sind geprägt und abhängig von der Situation, in die sie hineingeboren wurden.

6. Was läuft in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit Ihrer Meinung nach gut?
Eine ganz wichtige Errungenschaft ist das Kindergarten-Obligatorium ab 4 Jahren. Heute zweifelt kaum mehr jemand daran, dass es dem Kind dienlich ist, ab 4 Jahren mit Gleichaltrigen institutionalisiert Zeit zu verbringen. Als jedoch die ersten Diskussionen um Kindergärten aufkamen, gab es laute Stimmen, die dies als Einmischung in Familienangelegenheiten verwarfen. In der föderalistischen Schweiz gibt es bis heute unterschiedliche Vorstellungen, wann das ideale Kindergartenalter beginnt. Im Kanton Tessin etwa treten Kinder mit 3 Jahren in den Kindergarten ein. Eine solche Forderung würde in der Deutschschweiz viel Gegenwehr auslösen.

7. Wo hat die Schweiz Nachholbedarf?
Es fehlt in der Schweiz an ganzheitlichen Ansätzen, was die Auseinandersetzung mit der frühen Kindheit anbelangt. Die Wissenschaft kann empirisch belegen, dass die Grundlagen für die Sprach- und Sozialfähigkeit in den ersten vier Jahren liegen. Familien, in denen beide Elternteile arbeiten müssen oder wollen, benötigen Rahmenbedingungen. Doch die verschiedenen Bedürfnisse und Erkenntnisse werden nicht miteinander verbunden, um zu einer ganzheitlichen Lösung beizutragen. Auch deshalb braucht es die Kampagne Ready!, die genau da ansetzt.

8. Mit welchen Argumenten fordern Sie zusätzliche Investitionen in die frühe Kindheit durch den Staat und die Wirtschaft?
Es gibt viele Kinder in der Schweiz, die gut gefördert und betreut werden und insofern keinen Bedarf an staatlichen Impulsen haben. Aber es gibt auch viele Kinder, die auf solche angewiesen sind, und diese Kinder sollen Möglichkeiten haben. Auch wenn mir das als Liberaler widerstrebt – in dieser Sache setze ich mich dafür ein, dass der Staat durchgreift. Wir haben im Kanton Basel Stadt gesehen, dass freiwillige Elternprogramme zwar gut besucht werden, aber es kommen immer nur diejenigen Eltern, die ohnehin bereits sensibel sind für die Erziehung ihrer Kinder. Diejenigen Eltern, die wir eigentlich ansprechen wollten, haben wir auf freiwilliger Basis nicht erreicht. Allzu oft habe ich Aussagen gehört wie: «Meine Tochter braucht keine Förderung. Sie muss keine Hausaufgaben machen. Sie wird heiraten und Mutter sein. Das ist ihre Rolle.» Das sind Punkte, weshalb ich als Liberaler fordere, dass der Staat Einfluss nimmt. Ich denke dabei sowohl an kommunale als auch an kantonale Rechtsmittel. Die gegenwärtige Aufrollung der Geschichte von Verdingkindern zeigt, wie schnell die Gesellschaft in pädagogisch sensiblen Themen dazu lernt. Ich möchte verhindern, dass wir einmal zurückblicken und erkennen müssen, dass wir viel zu viele Kinder in den sensiblen Jahren von 0-4 ihrer Situation überlassen haben.

9. Was entgegnen Sie der Meinung, dass die ersten vier Lebensjahre der Kinder reine Familiensache sind?
Es braucht einen gesellschaftlichen Konsens, wie Kinder zwischen 0-4 Jahren aufwachsen sollen. Dieser Konsens soll Massstab sein, ob der Staat eine Rolle übernimmt oder nicht. Zudem ist es eine Tatsache, dass in vielen Familien beide Elternteile arbeiten wollen oder müssen. Die Qualität der familienexternen Kinderbetreuung müssen wir hochhalten – das dient den Kindern und gleichzeitig der ganzen Schweiz.

10. Kinder zwischen 0 und 4 zu fördern, bedeutet ...
Dass jedes Kind seinen Fähigkeiten entsprechend begleitet wird und somit chancengerecht in den Kindergarten eintreten kann.

Christoph Eymann ist Nationalrat der Liberal-demokratischen Partei Basel-Stadt, LDP BS.
Er war während 16 Jahren von 2001-2017 Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Basel Stadt und von 2013-2016 Präsident der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK).
Christoph Eymann ist verheiratet und Vater von 3 Kindern.