«Frühe Kindheit fördern: ein Beitrag an die Gesellschaft von morgen.»

25.03.2019
Laurent Wehrli, Nationalrat VD/FDP
Laurent Wehrli, Nationalrat VD/FDP

Was ist Ihre frühste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Gute Frage! Ich war wohl etwa vier und schaute am Bahnhof Clarens zu, wie die Züge vorbeifuhren. Es gab da ein Stellwerk, in dem der Bahnhofsvorstand an den grossen Hebeln zog, um die Weichen zu schalten. Das muss mit meiner heutigen Begeisterung für Modelleisenbahnen zu tun haben.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Es ist extrem wichtig, denn hier stehen wir am Anfang des Lebens. Selbstverständlich spielen die Eltern und die Familie eine zentrale Rolle. Doch muss die Gesellschaft einen allgemeinen Hilfsrahmen bereitstellen und bei Bedarf vorsorgen können. Ich finde es entscheidend, dass sich die verschiedenen Hilfsangebote im Frühbereich gegenseitig ergänzen. Die Kinder von 0 bis 4 Jahre sind die Gesellschaft von morgen. Damit kommt der Gesellschaft gezwungenermassen eine gewisse Verantwortung zu.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in Ihrem persönlichen Umfeld wahr?
Die Familie ist eine geteilte Verantwortung. Meine Frau und ich sind seit 30 Jahren verheiratet und haben eine Familie, die man als traditionell bezeichnen würde. Meine Frau ist immer berufstätig geblieben – darin waren wir uns einig –, wenn auch zeitweise mit reduziertem Pensum. Es war für uns wichtig, so das private und das berufliche Leben miteinander zu vereinbaren. Glücklicherweise stand uns unsere Verwandtschaft immer nahe. Aber es gibt wohl einen Bereich, in dem diese Vereinbarkeit schwieriger ist: in der Politik!

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Der politische Einsatz für die frühe Kindheit begleitet mich seit mehreren Jahren. In meinem ersten Mandat in Montreux war ich zuständig für den Frühbereich. Dabei mussten wir die ganze Kinderbetreuung restrukturieren und eine Stiftung schaffen. Ich war auch 12 Jahre lang Präsident von PRO FAMILIA SCHWEIZ und davor Präsident der Waadtländer Kantonalsektion.
Ich war immer sehr enttäuscht, dass in der Schweiz nicht mehr Angebote bestehen, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, und dass Frauen, die etwa eine höhere Berufsbildung oder einen Universitätsabschluss haben, ihre Berufsarbeit an den Nagel hängen, weil die bestehenden Strukturen sie dazu zwingen. Ich setze mich für READY! ein, um umfassende Lösungen zu suchen, von denen alle profitieren: Kinder, Eltern, Gesellschaft und Wirtschaft.

Was tun Sie in diesem Bereich konkret in Montreux und in Bundesbern?
In Montreux arbeitete ich zuerst daran, das Bestehende zu erhalten. Wir befanden uns in einer Situation, in der es an Ehrenamtlichen und Leitungspersonal mangelte, sodass das System praktisch einbrach. Mit der neugeschaffenen Stiftung konnten wir die grossen Herausforderungen angehen und die bestehenden Instrumente in zwei Richtungen weiterentwickeln: 1. die Zahl der Betreuungsplätze steigern; 2. das Netzwerk der Tagesmütter ausbauen.
Auf Bundesebene unterstütze ich verschiedene Initiativen zur Förderung einer umfassenden Politik der frühen Kindheit. Ich bin grundsätzlich für die Suche von allfälligen ergänzenden Lösungen, um den Familien eine Palette von Möglichkeiten zu bieten. Dabei gilt es, den kulturellen Unterschieden in der Schweiz Rechnung zu tragen.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut? Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Die Stärke des schweizerischen Systems liegt im Föderalismus. Er ist ein Glück, wenn es darum geht, ergänzende Lösungen zu suchen, die den regionalen Unterschieden gerecht werden.
Dass sich gewisse Wirtschaftsmilieus bewusst geworden sind, dass sie sich nicht mehr vom Thema der frühen Kindheit abwenden sollen, stellt meines Erachtens ein riesiges Potenzial dar. Ich nehme seit einigen Jahren eine äusserst positive Entwicklung wahr. Diesbezüglich spielt das READY!-Netzwerk eine wichtige Rolle.

In welcher Verantwortung sehen Sie den Staat und die Wirtschaft?
Mit Massnahmen, bei denen sich Familie, Wirtschaft und Gesellschaft gegenseitig ergänzen, werden wir Lösungen schaffen, die den Familien eine echte Hilfe sind. Hier müssen alle Akteure ihre Rolle spielen.
In der Unternehmenswelt besteht die Herausforderung darin, die Verantwortungsträger davon zu überzeugen, dass die Kinderbetreuung für alle von Nutzen ist, gerade auch für die Unternehmen selber. Ich bin überzeugt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Die Nachfrage nach einer besseren Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Familie steigt unter den ArbeitgeberInnen (z.B. dank unbezahltem Urlaub). Es liegt im Interesse der Arbeitgeber, Lösungen zu finden, die darauf eingehen.
Der Staat sollte nur Familien, die es wirklich brauchen, Infrastrukturen und Angebote bereitstellen, nicht allen. Wie gesagt: Die Verantwortung ist geteilt.

Welche zusätzlichen Massnahmen braucht es von Staat und Wirtschaft, damit die Situation im Frühbereich verbessert wird?
Erstens, der öffentliche oder private Arbeitgeber muss eine gewisse Flexibilität an den Tag legen und sich auf die Bedürfnisse der nächsten Generationen einstellen. Wenn sich die Unternehmen nicht weiterentwickeln, lassen wir wertvolle Berufskompetenzen ungenutzt, weil die Menschen zur Konkurrenz gehen oder selbständig werden. Zweitens, auf kantonaler und auch auf kommunaler Ebene brauchen wir grössere finanzielle Impulse. Damit können realitätsnahe Lösungen umgesetzt werden. In den letzten Jahren haben wir grosse Fortschritte erzielt (z.B. mehr Betreuungsplätze), aber alle Ziele sind noch nicht erreicht.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Meines Erachtens ist ein zentrales Argument für die Investition in den Frühbereich, dass damit Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Davon profitieren langfristig alle. Diese Botschaft trägt das READY!-Netzwerk immer wieder in die Wirtschaft. So leistet es einen Beitrag, dass wir voranschreiten und auch weiterhin an Lösungen für unsere grossen Herausforderungen arbeiten.

Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: Kinder zwischen 0 und 4 Jahren fördern heisst …
… sich um die Gesellschaft von morgen kümmern.