Exklusivinterview mit Heinz Altorfer, Mitglied der Schweizerischen UNESCO-Kommission

28.06.2017

Heinz Altorfer, Mitglied der Schweizerischen UNESCO-Kommission, sagt im Exklusivinterview, warum er die Kampagne Ready! unterstützt, spricht über Risikoerfahrungen als Kind und fordert den Schweizer Staat auf, in die frühe Kindheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu investieren. 10 Fragen – 10 Antworten.

Heinz Altorfer
Heinz Altorfer

1. Welches ist Ihre erste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie damals?
Ich kann mich erinnern, dass ich als kleines Kind an einem offenen Fenster auf dem Sims stand und neugierig auf die Strasse hinunterblickte. Mir war nicht bewusst, dass dies eine Risikosituation darstellte. Meine Mutter, die mich mit Schrecken vom Fenster wegzog, schätzte die Lage ganz anders ein. In diesem Moment habe ich vielleicht gelernt, wie risikoreich das Leben ist, aber auch dass man durchaus Risiken in Kauf nehmen kann, ohne dass das Schlimmste eintreten muss.

2. Wie und von wem wurden Sie in der frühen Kindheit gefördert?
Ich wurde stark von meiner alleinerziehenden Mutter gefördert, welche – obschon oder vielleicht auch weil sie berufstätig war – sich regelmässig Qualitätszeit für mich genommen hat. Offizielle familienexterne Betreuungsstrukturen gab es damals wenig: Wir waren auf die Unterstützung der Nachbarn und Freunde angewiesen. Als Kind hatte ich somit eine Vielzahl von Bezugssystemen, was ich als fordernd und bereichernd zugleich wahrnahm.

3. Wie fördern / förderten Sie Ihre Kinder?
Unsere eigenen drei Kinder haben wir nicht zielgerichtet gefördert, dieses Gedankengut war in der damaligen Gesellschaft und Pädagogik wenig präsent. Es war mir wichtig, präsent und nah bei den Kindern zu sein – sei es beim gemeinsamen Spielen, bei gemeinsamen Erlebnissen oder aber beim Wickeln, Baden und wenn ich die Kinder ins Bett brachte. Zwischen meiner Frau und mir gab es diesbezüglich keine festgelegten Rollen – wir haben beide alles gemacht, wenn auch zugegebenermassen der Anteil meiner Frau an der Familienarbeit grösser war. Zudem versuchte ich immer, unsere Kinder an ihre Grenzen zu bringen, sie Neues ausprobieren zu lassen und sie herauszufordern. Folglich: die Kinder nicht lediglich in ihrer Entwicklung zu bestätigen, sondern ihre Grenzen ausloten zu lassen.

4. Wie nehmen Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahr?
Als sehr schwierig. Ich weiss von Grossmüttern, die das Pensionierungsalter noch nicht erreicht haben, aber ihre Arbeitspensen reduzieren, damit sie die Kinder ihrer Söhne und Töchter hüten können. Solche Möglichkeiten haben nicht alle. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, für Teilzeitarbeit Anerkennung zu erfahren. Als ich mich anfangs 90er Jahre entschied, mein Arbeitspensum auf 90 Prozent zu reduzieren, um ein wenig mehr Zeit für die Kinder zu haben, waren meine Karrieremöglichkeiten erst einmal verbaut.

5. Warum engagieren Sie sich für Ready! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Die frühe Kindheit ist in der Schweizer Bildungspolitik noch kein Thema. Zwar gibt es staatliche Massnahmen beim Kinderschutz, in der Väter- und Mütterberatung, bei den Familienzulagen und bei der Steuerpolitik. Darüber hinaus nimmt der Staat aber wenig Einfluss auf die Realität von Kindern vor der obligatorischen Schulzeit. Das heisst, dass Kinder in der Schweiz in den sensiblen Jahren zwischen 0 und 4 vielfach ihrer jeweiligen familiären Situation überlassen sind, auch wenn diese prekär ist. Das erachte ich als fahrlässig. Ich setze mich dafür ein, dass es hier zu Korrekturen kommt. Erfreulicherweise gibt es zahlreiche gute Initiativen, die sich für eine bessere Quaität in der frühen Kindheit einsetzen, nur sind diese bisher kaum koordiniert und verzahnt. Ich engagiere mich dafür, dass die Initiativen gebündelt werden und dass alle Akteure an einem Strick ziehen mit dem Ziel, eine politische und gesellschaftliche Veränderung zu Gunsten der Kinder zu erwirken. Hier haben Gesellschaft und Staat noch grosse Aufgaben vor sich.

6. Was läuft in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit Ihrer Meinung nach gut?
Es gibt viele gute private Initiativen in der Unterstützung von kleinen Kindern bzw. deren Familien und in der Bereitstellung von qualitativ guten Betreuungsangeboten. In Gemeinden und Kantonen werden zunehmend auch Überlegungen zur Verantwortung der öffentlichen Hand angestellt. Die Wissenschaft schafft Grundlagen, damit auch empirisch nachgewiesen werden kann, wie wichtig gute Qualität in den ersten vier Lebensjahren für die Entwicklung eines Menschen sind.

7. Wo hat die Schweiz Nachholbedarf?
Es fehlt an ganzheitlichen Ansätzen, und es fehlt ein Fokus auf die Qualität der Betreuung. Unabhängig der finanziellen Möglichkeiten sollen alle Eltern ihre Kinder bei Bedarf in eine qualitativ gute Kinderkrippe schicken können. Das schafft gerechte Chancen für alle, womit der gesellschaftliche Zusammenhalt bestehen bleibt. Das Erfolgsmodell der Volksschule zeugt davon: Grundsätzlich habe alle Kinder die Möglichkeit zu reüssieren. Damit jedoch beim Eintritt in die Schule wirklich Chancengerechtigkeit herrscht, müssen die Weichen bereits in den ersten vier Lebensjahren gestellt werden.
Ich beobachte, dass der Grossteil der Bevölkerung nicht weiss, unter welchen Umständen Kinder in der Schweiz aufwachsen. Man kennt immer nur die eigene Reichweite. Die Sensibilisierung fehlt, obwohl die Unterschiede immens sind.

8. Mit welchen Argumenten fordern Sie zusätzliche Investitionen in die frühe Kindheit durch den Staat und die Wirtschaft?
Die Wirtschaft hat eine subsidiäre Rolle, indem sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern muss – etwa durch Teilzeitmodelle oder Kita-Kontingente. Die Verantwortung jedoch liegt primär beim Staat, er ist aufgefordert, in die frühe Kindheit seiner Bürger zu investieren. Der Return dieser Investition ist immens: Erfolgreichere Bildungslaufbahnen, grösseres Glückspotential des Individuums, Sicherstellung einer intakten Demokratie, tiefere Sozialkosten, weniger Kriminalität – die Schweiz als Ganzes wird stärker. Während die Wirtschaft Arbeitskräfte aus dem Ausland holen oder ihren Hauptsitz ins Ausland verlagern kann, hat der Staat keine Möglichkeit, seine Bürgerinnen und Bürger auszutauschen. Er muss proaktiv gute Rahmenbedingungen für sie schaffen.

9. Was entgegnen Sie der Meinung, dass die ersten vier Lebensjahre der Kinder reine Familiensache sind?
Natürlich ist die Familie im Leben eines Kindes zwischen 0 und 4 Jahren enorm wichtig. Aber die Bedingungen sind nicht immer gegeben, dass das Umfeld sich zu 100 Prozent der Kinderbetreuung widmen kann. Die berufliche Belastung, die Mobilität der jungen Familien und die verschwindenden freien Spielräume machen ergänzende Betreuungsangebote von hoher Qualität notwendig. Hier können kleine Kinder auch viel Neues entdecken: In Gruppen spielen, Kinder aus anderen Kulturen respektieren, Erwachsene um sich haben, die Zeit haben.

10. Kinder zwischen 0 und 4 zu fördern, bedeutet ...
Erstens, in die Zukunft zu investieren. Zweitens, Freude zu haben, wenn Kinder sich optimal entwickeln können. Drittens, Verantwortung zu übernehmen für die Gesellschaft, für die Wirtschaft und für die Volkswirtschaft. Und viertens, das Recht des Kindes auf Bildung zu respektieren.

Heinz Altorfer ist Mitglied der Schweizerischen UNESCO-Kommission. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.