Lavinia Jacobs, Präsidentin des Stiftungsrates der Jacobs Foundation, sagt im Exklusivinterview, weshalb sie die Kampagne Ready! unterstützt, spricht über ihre Kindheit mit stundenlangen Streifzügen durch den Wald und fordert den Schweizer Staat auf, dem Bildungssystem wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. 10 Fragen – 10 Antworten.
1. Welches ist Ihre erste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie damals?
Ich kann mich gut an die Spielgruppe erinnern, die ich als kleines Mädchen besucht habe. Jedes Mal, wenn meine Mutter mich dorthin brachte, war ich furchtbar traurig. Und jedes Mal, wenn sie mich abholte, war ich wieder furchtbar traurig, weil ich mich schon wieder von meinen Kameraden verabschieden musste.
2. Wie und von wem wurden Sie in der frühen Kindheit gefördert?
Neben meinen Eltern waren auch meine Grosseltern sehr aktiv in die Erziehung und Förderung von uns Kindern involviert. In den ersten paar Jahren meiner Kindheit hatten die Grosseltern in einem Wohnblock in Zürich gelebt, später zogen sie zu uns in eine Anliegerwohnung. Meine Geschwister und ich waren überglücklich, dass wir nun noch mehr Zeit mit den Grosseltern verbringen durften. Wir lebten das Leben einer Grossfamilie – es war immer sehr viel los.
Unsere Grosseltern haben uns verschiedene Lieder gelehrt, mein Grossvater italienische, da er ursprünglich aus Italien kam, meine Grossmutter schweizerdeutsche. Und heute singt meine Grossmutter diese Lieder unseren Kindern – also ihren Urenkeln – vor. Meinem Vater war es ein Anliegen, dass wir viel Zeit in der Natur verbrachten. Wir sind stundenlang mit ihm durch Wiesen und Wälder gestreift, haben Regenwürmer und Käfer beobachtet und mit selbst gesammelten Beeren Konfitüre gekocht.
3. Wie fördern / förderten Sie Ihre Kinder?
Vieles geschieht und geschah intuitiv. Sicherlich beeinflussen auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche wir bei der Jacobs Foundation erarbeiten, meinen Umgang mit unseren bald vier Kindern.
Die Kinder verbringen viel Zeit draussen in der Natur, musizieren oder gehen schwimmen. Das macht den Kindern Freude, aber natürlich habe ich im Hinterkopf, dass dies gleichzeitig auch ihre neurologische und physiologische Entwicklung fördert.
Die Kinder verbringen viel Zeit mit ihrer Grossmutter und Urgrossmutter und sie besuchen auch ganz bewusst eine Kinderkrippe, denn nur so können sie sich regelmässig mit Gleichaltrigen austauschen.
4. Wie nehmen Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahr?
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in der Schweiz leider ein grosses Problem. Bei der Jacobs Foundation bieten wir Teilzeitstellen, flexiblere Arbeitszeiten und die Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten an. Dies ist ein nachhaltiges Modell, denn so können wir Eltern auch nach der Geburt ihrer Kinder in der Wirtschaft behalten. Ich sage bewusst «Eltern» und nicht Mütter, denn die Väter gehen in dieser Diskussion oft vergessen.
5. Warum engagieren Sie sich für Ready! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Es kann nicht sein, dass Eltern nicht mehr arbeiten gehen, weil sie nicht wissen, wie gut ihr Kind in einer Krippe gefördert und betreut wird. Das öffentliche Bildungssystem in der Schweiz war lange Zeit weltweit an der Spitze, leider wird hierzulande aber nicht genug in die frühe Bildung investiert. Die Schweiz ruht sich auf den Lorbeeren aus und merkt nicht, dass andere Länder an ihr vorbeiziehen.
6. Was läuft in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit Ihrer Meinung nach gut?
In der Schweiz wachsen Kinder in Sicherheit auf. Die Kriminalitätsrate ist vergleichbar gering, es gibt keinen Krieg, und das soziale Auffangnetz funktioniert. Auch Grundbedürfnisse wie Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf werden befriedigt. Auch wenn man in sozial schwierigen Verhältnissen aufwächst, hat man Chancen. Es gibt keine grossen gesellschaftlichen Klüfte. Grundsätzlich kann man sagen: der Staat nimmt seine Verantwortung wahr.
7. Wo hat die Schweiz Nachholbedarf?
Der Wichtigkeit des Bildungssystems wird immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Seitens des Staates fühlt sich niemand richtig für die frühe Kindheit zuständig, die Verantwortung wird an die Kantone delegiert. Bei aller Wertschätzung zum Föderalismus: Der Staat muss Richtungen vorgeben. Gewisse Kommunen und Kantone setzen sich stark mit der frühen Kindheit auseinander – so etwa die Stadt Zürich. Doch es braucht einen Ansatz, der unabhängig des Wohnortes in der Schweiz Chancengerechtigkeit schafft.
8. Mit welchen Argumenten fordern Sie zusätzliche Investitionen in die frühe Kindheit durch den Staat und die Wirtschaft?
Es ist ein formuliertes Bedürfnis von Staat und Wirtschaft, dass mehr Frauen arbeiten, dass Massnahmen gegen den Fachkräftemangel getroffen werden, oder dass die AHV der Zukunft gesichert sein soll. Ich bin überzeugt, dass eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein erfolgreicher Hebel für diese Absichten ist. Auch sollen Sozialausgaben sinken – wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass sich durch Investitionen in die frühe Kindheit spätere Sozialausgaben deutlich senken lassen. Wir wissen, dass Kinder von der frühen Begegnung mit Gleichaltrigen stark profitieren.
Kurz: Investitionen in die frühe Kindheit dienen dem Kind, den Eltern, der Wirtschaft, dem Staat. Alle profitieren, niemand verliert.
9. Was entgegnen Sie der Meinung, dass die ersten vier Lebensjahre der Kinder reine Familiensache sind?
Es soll keinen Krippenzwang geben. Jede Familie soll frei entscheiden können. Aber das Bedürfnis nach familienergänzender Kinderbetreuung ist ganz klar eine gesellschaftliche Tatsache. Ich kenne aus meinem persönlichen Umfeld nur eine Mutter, die aufgrund ihrer Kinder nicht mehr arbeitet. Die meisten Mütter wollen oder müssen arbeiten. Grosseltern oder Nachbarn springen in der Schweiz gerne ein, aber es braucht zuverlässige und institutionalisierte Möglichkeiten der externen Kinderbetreuung. Ich setze mich für gute Krippen anstelle von beliebigen Hütediensten ein.
10. Kinder zwischen 0 und 4 zu fördern, bedeutet ...
Dass Kinder auf spielerische, individuelle und kindgerechte Weise ihr Potential entwickeln können.
Lavinia Jacobs ist Präsidentin des Stiftungsrates der Jacobs Foundation. Sie ist verheiratet und hat drei, bald vier Kinder.