Mittendrin statt ausgegrenzt

7.05.2019

Kinder mit besonderen Bedürfnissen brauchen individuelle Zuwendung. Ivan Pirozzi hat ein seltenes genetisches Syndrom. In der GFZ Kita 3 in Zürich wird der dreijährige Bub in seiner Persönlichkeit gefördert und ist eine Bereicherung für seine Gspändli.

Teamwork: Romy Chèvre und Astrid Hartmann (von links) spielen mit Ivan Pirozzi. (Bild: Thomas Wälti)
Teamwork: Romy Chèvre und Astrid Hartmann (von links) spielen mit Ivan Pirozzi. (Bild: Thomas Wälti)

Ivan Pirozzi zirkelt die bunte Holzeisenbahn behutsam durch das Zimmer. Er lacht, klatscht und winkt seinen Gspändli zu, die im Kreis herumsitzen. Die Kinder grüssen zurück. Sie mögen den dreijährigen Buben. Der aufgeweckte Ivan ist einer von ihnen. Das spürt der Besucher ganz gut an diesem Morgen in der GFZ Kita 3 in Zürich. Und doch: Ivan ist anders. Er hat eine mittelschwere geistige Behinderung, die auf eine angeborene Genmutation zurückzuführen ist. In der Schweiz ist Ivan der Einzige mit diesem genetischen Syndrom, weltweit sind 25 Fälle mit diesem Krankheitsbild bekannt.
Wenn Ivan Freude bekundet, oder wenn er zornig ist, schreit er ungewöhnlich laut. Sein sprachlicher Entwicklungsrückstand ist beträchtlich. «Wir wissen nicht, ob Ivan jemals sprechen wird», sagt Mutter Claudia Pirozzi. Um anzufügen: «Vereinzelt kann ich Ivans Lautäusserungen verstehen. Manchmal reagiert er auf meinen Zuruf – wenn ich zum Beispiel sage: ‹Komm, wir staubsaugen zusammen!›, läuft Ivan zum Putzschrank. Das macht mir Mut.» Ivan leidet zudem an Epilepsie. Er muss dauerhaft überwacht werden, zu gefährlich könnten Ausflüge mit dem Trottinett sonst werden. Krampflösende Notfallmedikamente sind stets griffbereit.
Seit mehr als einem Jahr geniesst Ivan Heilpädagogische Früherziehung. Zwei Tage pro Woche verbringt er mit anderen Kindern in der GFZ Kita 3. Claudia Pirozzis Augen füllen sich mit Tränen, als sie sagt: «Wir sind unendlich dankbar dafür, dass es diese Kindertagesstätte gibt, wo Kinder mit besonderen Bedürfnissen und Behinderungen aufgenommen werden. Diese Institution trägt zu mehr Chancengerechtigkeit bei.» Ivan gefalle es sehr gut in der Kita. «Wenn ich ihn am Abend abhole, muss ich ihn manchmal fast nach Hause locken.»

Ivan ist eine Bereicherung für die Gruppe
Romy Chèvre, Fachfrau Betreuung Kinderbereich, freut sich über die Fortschritte, die Ivan seit seinem Kita-Eintritt gemacht hat. «Am Anfang hat Ivan sehr viel beobachtet, nun integriert er sich in die bestehende Gruppe. Letzthin initiierte er sogar ein Spiel, das er von seinem drei Jahre älteren Bruder Diego gelernt haben muss», erzählt die 28-Jährige. Ivan habe einem Gspändli den Finken stibizt und lachend in die Höhe gehalten. «So entwickelte sich eine lustige Eigendynamik.» Ivan sei eine Bereicherung für die Gruppe, meint Romy Chèvre.

Ivan könne mit seinen Kameraden nun auch gemeinsam Mittagsschlaf halten, ergänzt die Heilpädagogin Astrid Hartmann. Das sei ein grosser Schritt. «Früher musste Ivan mit den Haaren seiner Mutter spielen, um einschlafen zu können. Jetzt hat er diese Veränderung gemeistert, die Eingewöhnung ist gelungen», sagt die 56-Jährige. Sie begleitet das Angebot der Stiftung GFZ «Kinder mit besonderen Bedürfnissen», in dessen Kontext diese Kinder in den 15 Kindertagesstätten und vereinzelten Tagesfamilien betreut werden.
Astrid Hartmann arbeitet seit 15 Jahren bei der GFZ. Sie ist gewissermassen der Coach der Erzieherinnen. «Ivan wird im Rahmen der Heilpädagogischen Früherziehung auch im häuslichen Umfeld und in Anwesenheit seiner Eltern gefördert. Diese Aufgabe übernimmt allerdings eine andere Heilpädagogin», sagt Astrid Hartmann und ergänzt, dass es eine intensive Zusammenarbeit von Eltern, externen Therapeuten, Fachstellen und dem Personal in Kita oder Tagesfamilie brauche, um diese Kinder optimal zu betreuen.

Stadt Zürich übernimmt Vorbildrolle
Astrid Hartmann bezeichnet die Stiftung GFZ als einzigartig. In der Schweiz kenne sie keine andere Organisation, die eine ähnlich spezifische heilpädagogische Förderung anbiete. Claudia Sigrist-Balsiger, Geschäftsleitungsmitglied GFZ und Leiterin Kita-Verbund 1, ist gleicher Meinung. Sie sagt: «Das gut funktionierende Finanzierungsmodell der Stadt Zürich hat Vorbildcharakter. Entstehen bei der Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen zusätzliche Aufwände, können diese mittels finanzieller Zuschläge bei der Stadt geltend gemacht werden. Solche Finanzierungsmodelle würden wir uns auch für andere Gemeinden im Kanton wünschen.»

Der Bund ist in der Pflicht
Es brauche Rahmenbedingungen, um solche Angebote überhaupt finanzieren zu können, meint Claudia Sigrist-Balsiger. Die GFZ beziehe sich hier auf die in Art. 8.2 der Bundesverfassung verankerten Rechtsgleichheit, auf das Behindertengleichstellungsgesetz und die mit der Ratifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention verbundenen Pflicht, den besonderen Unterstützungsbedürfnissen von Kindern mit Behinderung Rechnung zu tragen. «Bei der Finanzierung ist auch die Öffentliche Hand ein wichtiger Player, da zusätzliche Aufwände bei der Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen ansonsten von Eltern oder den Trägerschaften übernommen werden müssen», sagt Claudia Sigrist-Balsiger.

Auf die Frage, welche Rolle der Bund bei der Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden Politik der frühen Kindheit übernehmen soll, antwortet Claudia Sigrist-Balsiger: «Der Bund soll gemeinsam mit den Kantonen und Gemeinden Grundlagen schaffen, die qualitativ hochwertige und bedarfsgerechte Angebote für frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung ermöglichen. Angebote, die für alle Familien leistbar sein sollten.» Im Zusammenhang mit der Qualität spiele die Forschung eine wichtige Rolle. Diese sei – wie die Unesco-Publikation «Für eine Politik der frühen Kindheit» aufzeige – im Vergleich zum benachbarten Ausland in der Schweiz deutlich weniger ausgebaut. «Auch beim Ausbau der Forschungsinfrastruktur im Frühbereich könnte der Bund eine wichtige Rolle einnehmen», sagt Claudia Sigrist-Balsiger.

Auch Claudia Pirozzi wünschte sich, dass der Bund mehr in die Pflicht genommen würde. «Als Hausfrau kann ich Ivans Fremdbetreuung nicht von den Steuern abziehen, das ist eine Benachteiligung.»

Ivans Zukunft bleibt ungewiss
In der GFZ Kita 3 ist es inzwischen bald Mittag geworden. Es riecht lecker, lukullische Düfte strömen durch die Räume. Bald dürfen die Kinder an den Tisch sitzen. Bis es soweit ist, spielt Ivan mit seinen Gspändli mit Duplo. Im Zimmer nebenan sinniert Claudia Pirozzi: «Wie sich Ivan entwickeln wird, wissen wir nicht. Ich wünsche mir einfach, dass die Ärzte mit ihrer Prognose falsch liegen.» Ivan werde dereinst einen IQ von 50 erreichen, was in der Fachsprache eine leichte Intelligenzminderung bedeutet. Im vergangenen Jahr flog Claudia Pirozzi mit ihrem Sohn nach Tel Aviv, wo Ivan von der Intensivtherapie «First Step» profitieren durfte. Die Behandlungskosten bezahlte sie selbst.

Die Ärzte sagen auch, dass Ivan sein Leben lang auf Unterstützung angewiesen sein werde. «Mir bricht es das Herz, wenn ich daran denke, dass Ivan vielleicht in ein Heim gesteckt wird, wenn ich einmal nicht mehr für ihn da sein kann.»

Autor: Thomas Wälti

Über 1600 Kinder in 15 Kitas und Tagesfamilien
Die Stiftung GFZ (vormals Gemeinnütziger Frauenverein Zürich) setzt sich seit 134 Jahren für die Anliegen von Frauen, Kindern und Familien ein und betreut über 1600 Kinder in 15 Kindertagesstätten und in Tagesfamilien. Die Institution betreibt ausserdem drei Familienzentren in der Stadt Zürich. GFZ entlastet Frauen und Familien, fördert die Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen und bietet Wohnmöglichkeiten für GFZ-Lernende und Studentinnen an.
Für Kinder mit besonderen Bedürfnissen – Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, einer Sprach-, Körper-, Seh- oder Hörbehinderung, einer geistigen Behinderung – bietet GFZ eine Betreuung an, die die soziale Integration und die bestmögliche individuelle Förderung zum Ziel hat.
GFZ finanziert ihr Angebot mit Beiträgen ihrer Kunden, städtischen Subventionen, Beiträgen anderer gemeinnütziger Organisationen, Spenden, Legaten, Vermögenserträgen sowie ehrenamtlicher Mitarbeit.

www.gfz-zh.ch