Quantität und Qualität im Frühbereich

28.08.2017

Replik von Prof. Martin Hafen zu den Artikeln in der NZZ vom 24. August 2017.

Man kann der NZZ nicht vorwerfen, dass sie der Meinungsvielfalt keinen Raum gewährt. Noch am 28. Mai dieses Jahres beschreibt Jürg Krummenacher unter dem Titel ‘Wo die Schweiz ein Entwicklungsland ist’ die Situation der Schweiz in der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE). Er listet in seinem Text eine Reihe von wissenschaftlich begründeten Argumenten auf, warum die Schweiz im Frühbereich mehr investieren und die Forschung ausbauen sollte. Weiter verweist er auf die ‘Ready-Kampagne’ der Jacobs Foundation, die darauf ausgerichtet ist, das öffentliche und das politische Bewusstsein für die Notwendigkeit dieser Investitionen zu stärken.
Im Text ‘Die Macht der Wohltäter’ vom 24. August kritisieren Claudia Wirz und Lucien Scherrer nun exakt dieses Engagement. Die wissenschaftlichen Argumente werden dabei nicht wissenschaftlich widerlegt, sondern mit populistisch anmutenden Gemeinplätzen gekontert. So fragen der Autor und die Autorin: «Ist soziale Kompetenz in einer Kinderkrippe nicht wichtiger als ein Hochschuldiplom?» - Fraglos ist Sozialkompetenz eine wichtige Voraussetzung für die pädagogische Arbeit im Frühbereich. Sie ist überall von Bedeutung, wo es Fachleute mit Menschen zu tun haben – in der Schule, in der Sozialen Arbeit, in der Psychologie und in der Medizin. Nur reicht das nicht. Professionell Tätige brauchen neben Selbst- und Sozialkompetenz auch Fach- und Methodenkompetenz. Sie müssen wissen, was, wie und warum sie tun, was sie tun. Die entsprechenden Kompetenzen müssen systematisch angeeignet werden. Das geschieht in qualitativ hochstehenden Aus- und Weiterbildungen, die ein zentrales Element jeder Professionalisierung sind.
Nun gibt es kein einziges wissenschaftlich begründbares Argument für die These, dass eine Gymnasiallehrkraft besser ausgebildet sein sollte als eine Kleinkindererzieherin. Im Gegenteil: Es gibt zahllose Studien, die belegen, wie prägend die ersten Lebensjahre für die Entwicklung eines Menschen sind und wie gross der Einfluss der primären und der sekundären Bezugspersonen in dieser Lebensphase ist. Wenn Eltern ihr Kind in eine Betreuungseinrichtung geben, dann haben Sie (und das Kind) genauso Anspruch auf eine qualitativ hochstehende Betreuung wie bei einem Spitalaufenthalt oder in der Schule. Die Argumente gegen eine quantitative und qualitative Stärkung der FBBE muten vor diesem Hintergrund an wie die Argumente gegen die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert.
Mit ihrer Frage «Was hat es mit Chancengleichheit zu tun, wenn die Krippen noch teurer werden?» verweisen Wirz und Scherrer auf die Kosten, die eine Professionalisierung der FBBE zwangsläufig mit sich bringen. Sie implizieren mit dieser Frage, dass die Jacobs-Stiftung und die Mitglieder der Ready-Kampagne dem Faktor Chancengleichheit keine angemessene Bedeutung zumessen. Das Gegenteil ist der Fall. In Studien und Fachbeiträgen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Selbstbeteiligungsanteil für Kinderbetreuungsplätze in der Schweiz so hoch ist wie in kaum einem anderen Land und dass dies vor allem für sozial benachteiligte Familien ein grosses Problem ist. Die entsprechende Forderung ist, dass der Staat und damit die Steuerzahlenden in den Frühbereich investieren sollten. Ökonomen wie der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman rechnen schon lange vor, dass sich diese Investitionen auch ökonomisch auszahlen. Durch eine qualitativ hochstehende Bildung und Betreuung insbesondere sozial benachteiligter Kinder werden langfristig Kosten eingespart, da die Betroffenen in der Schule und bei der Integration ins Berufsleben weniger spezifische Förderung benötigen und ein höheres Lebenseinkommen generieren. Zudem werden sie weniger straffällig, brauchen weniger Sozialhilfe und generieren weniger Gesundheitskosten.
Wir sollten froh sein, dass private Initiativen wie die Jacobs Foundation den Bund, die Kantone und die Gemeinden dabei unterstützen, die prekäre Lage in der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu verbessern. Aus diesem Grund bin ich stolz darauf, im Rahmen der Ready-Kampagne zusammen mit vielen andern einen kleinen Beitrag an diese Unterstützung leisten zu können.