«Wir müssen die frühe Förderung entpolitisieren»

17.05.2018

Dr. Janine Händel, Geschäftsführerin der Roger Federer Foundation, erklärt im Interview, was frühe Förderung und Grundschulbildung in Entwicklungsländern bewirken können, wie gross Kinderarmut in der Schweiz ist – und weshalb sich die Stiftung als Koalitionspartner für die Anliegen von Ready! einsetzt.

Eine starke Stimme: Die Menschen in Malawi hören Janine Händel aufmerksam zu.
Eine starke Stimme: Die Menschen in Malawi hören Janine Händel aufmerksam zu.

«Ich bin die Zukunft von morgen», sagte die kleine Nolonwabo Batini aus Südafrika zu Roger Federer, als er ihre Schule besuchte. Welchen Stellenwert hat dieses Zitat für Sie?
Janine Händel: Ich verbinde viele gute Gefühle mit diesem Zitat. Nolonwabo Batinis Überzeugung wurde zur Leitidee der Roger Federer Foundation. Die Stiftung möchte, dass auch Kinder, die von Armut betroffen sind, ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen und mitgestalten können – dank früher Förderung und hochwertiger Bildung.

Was bedeutet Bildung für Sie?
Bildung ist eines der wirkungsvollsten Instrumente, das man einsetzen kann, um ein Kind aus Armut herauszuholen. Deshalb haben wir in unserem Strategieprozess das prioritäre Ziel definiert, die Bildungsqualität an Kindergärten, Vorschulen und Primarschulen nachhaltig zu verbessern. Wir unterstützen einzig und allein bestehende Bildungseinrichtungen für Kinder im Alter von drei bis zwölf Jahren.

Die Roger Federer Foundation engagiert sich auf dem afrikanischen Kontinent in Botswana, Malawi, Namibia, Sambia, Simbabwe und Südafrika. Die Stiftung unterstützt aber auch Kinder in der Schweiz. Weshalb?
Wir wollen, dass die Bildungsqualität für Kinder, die von Armut betroffen sind, auch in der Schweiz erhöht wird. Aus diesem Grund investieren wir zehn Prozent unseres Budgets in der Schweiz, wo wir vier Programme unterstützen (siehe Kasten, die Red.). Gemeinsam mit der Jacobs Foundation sind wir zum Beispiel eine Co-Programmträgerschaft eingegangen: Das Programm «Primokiz» hat die Aufgabe, alle Akteure der frühen Kindheit innerhalb einer Stadt oder Gemeinde zu vernetzen und in der Erarbeitung einer Gesamtstrategie zu unterstützen. So sollen ein ganzheitliches und allein auf das Kind zugeschnittenes Vorgehen und Angebot entwickelt werden, die Familien und Kinder optimal in unserer Gesellschaft einbetten und ihnen einen guten Start ins Leben ermöglichen.

Ist die Kinderarmut in der Schweiz gross?
In der Schweiz ist Kinderarmut weniger sichtbar als in Afrika. Aber: Jedes 15. Schweizer Kind lebt in armutsnahen Verhältnissen. Dies führt häufig zu sozialer Isolation und grossen Defiziten in der sprachlichen und motorischen Entwicklung. Jedes zehnte Schweizer Kind weist beim Kindergarteneintritt ein Entwicklungsdefizit auf, das sich in der Regel nicht mehr aufholen lässt. Die Schere zwischen Arm und Reich darf nicht weiter auseinandergehen. Jedes Kind dieser 10-Prozent-Gruppe, das wir besser integrieren und fördern können, wird als Erwachsener in der Lage sein, sich ökonomisch in dieser Gesellschaft zu behaupten. Jeder Franken, der in die frühe Förderung investiert wird, wirft folglich eine hohe Rendite ab.

Weshalb setzt sich die Roger Federer Foundation als Koalitionspartner für die Anliegen von Ready! ein?
Auch die Akteure der Frühförderung müssen sich vernetzen und koordinieren, um wirksamer zu werden. In der Schweiz gibt es zahlreiche Gratisangebote, wie zum Beispiel Bastelnachmittage und gemeinsames Singen. Diese Angebote wären gerade für Eltern in schwierigen sozialen Verhältnissen ideal. Doch haben diese Eltern oft eine grosse Schwellenangst, oder die relevanten Informationen dringen nicht bis zu ihnen vor, sodass die Angebote gerade von diesen Eltern nicht genutzt werden. Wir müssen aber bis zu unserer Zielgruppe vordringen. Diese grosse Herausforderung können wir nur gemeinsam meistern. Als Koalitionspartner von Ready! wollen wir mithelfen, ein Netz zu spannen, das auch einkommensschwache Familien auffängt. Zudem ist frühe Bildung auch volkswirtschaftlich relevant.

Inwiefern?
Vor zwei Jahren hat die Weltbank Frühbildung als entscheidende makroökonomische Säule der Volkswirtschaft anerkannt. In der Schweiz dagegen wird die frühe Förderung oft emotionalisiert und als Luxus abgestempelt. Es ist wichtig, dass man Frühförderung sachlich und forschungsbasiert betrachtet. Es gibt mehrere Studien, die belegen, dass frühkindliche Bildung langfristig einen wirtschaftlichen Gewinn von einem Faktor 1:17 hervorbringt. Bis sich in der Schweiz die Meinung der Weltbank etabliert hat, muss jedoch noch viel Aufklärungsarbeitet geleistet werden. Hierfür braucht es überzeugende Botschafter. Als Koalitionspartner von Ready! wollen wir diesen Botschaften mehr Gewicht verleihen. Je vielfältiger die Koalition ist, desto glaubwürdiger wird sie. Wir müssen das Thema der frühen Förderung entpolitisieren. In der Schweiz wird heute von niemandem mehr in Frage gestellt, dass jedes Kind während neun Jahren zur Schule gehen muss. Genauso müsste es bei der frühen Förderung sein.

Wie viele Kinder erreicht die Roger Federer Foundation mit ihrem Engagement?
Bis Ende April 2018 erreichten wir mit unseren Programmen im südlichen Afrika und in der Schweiz 950'000 Kinder. Unser Ziel ist es, dass bis Ende 2018 insgesamt eine Million Kinder in einer von uns unterstützten Institution Bildung erhalten. Rund 60 Prozent der laufenden Programme betreffen die frühe Förderung – Tendenz steigend.

Wie beurteilen Sie den Erfolg der Roger Federer Foundation?
Wir messen die Wirkung unserer Interventionen mit Indikatoren. Im schulischen Bereich definieren wir sie in Afrika beispielsweise wie folgt: Wie viele Kinder haben sich für den Kindergarten und die Schule eingeschrieben? Wie entwickelt sich die Repetitionsrate? Wie viele Kinder brechen die Schule ab? Wie viele Kinder absolvieren die Jahresabschlussprüfung? In Afrika liegt die Quote der Kinder, die nie einen Kindergarten besucht haben, zwischen 20 und 50 Prozent.

Gibt es noch andere Indikatoren?
Ja. Für die Entwicklung eines Kindes ziehen wir andere Indikatoren heran, wie zum Beispiel: Wie entwickelt sich ein Kind im physisch/motorischen beziehungsweise im sozial/emotionalen Bereich? Wie verbessern sich die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes? Besitzt es eine Streitkultur? Wir haben auch Outcome-Indikatoren.

Was verstehen Sie darunter?
Wir bilden Lehrerinnen und Lehrer aus. Deshalb wollen wir wissen, ob sie das Gelernte im Schulunterricht anwenden. Wir überprüfen aber auch, ob in einem Kindergarten in der Zwischenzeit tatsächlich ein Spielplatz gebaut wurde, oder ob in einer Schule inzwischen gesunde Mahlzeiten zubereitet werden. Als Förderstiftung, die direkt mit lokalen Organisationen die Programme umsetzt, sind wir verpflichtet, genau hinzuschauen, welche Interventionen zum Erfolg führen und welche nicht. Im Weiteren ist bei unserem Ansatz zentral, dass wir die Menschen vor Ort nicht mit Waren versorgen, sondern bestehende Kompetenzen und Ressourcen mobilisieren und stärken. Wir unterstützen die betroffene Bevölkerung bei der Lösung ihrer Probleme inhaltlich, organisatorisch und finanziell.

Welche Erfolge können Sie in Afrika vermelden?
Wir haben in jedem Projekt tendenziell viel erreicht. Bei der Einschulungsquote, um ein Beispiel zu nennen, verzeichnen wir an einzelnen Schulen eine Steigerung um bis zu 600 Prozent. Wir schauen einem Projekt nicht fünf Jahre lang zu und analysieren dann die Wirkung unserer Interventionen. Wir hinterfragen die Wirkungsgrade der Projekte laufend. Können wir es noch besser machen? Ein Projekt ist ein andauernder Lernprozess. Denn es gibt viele externe Faktoren, positive wie negative, die es bei einer Intervention zu berücksichtigen gilt. Wenn wir merken, dass Indikatoren eine wenig positive Entwicklung zeigen, verändern wir die Intervention.

Interview: Thomas Wälti

40 Millionen Franken gestiftet
Die Roger Federer Foundation unterstützt seit bald 15 Jahren Bildungsprojekte im Süden Afrikas und in der Schweiz. In Botswana, Malawi, Namibia, Sambia, Simbabwe und Südafrika konzentriert sich die Förderstiftung thematisch auf die Verbesserung der Bildungsqualität auf Stufe Primarschule sowie auf die frühe Förderung. In der Schweiz steht die vor- und ausserschulische Förderung von Kindern, die in armutsnahen Verhältnissen aufwachsen, im Vordergrund. Die Roger Federer Foundation arbeitet mit insgesamt 18 Partnerorganisationen zusammen. 14 von ihnen befinden sich im südlichen Afrika, 4 in der Schweiz. Bis Ende 2018 werden über 40 Millionen Franken in Projekte geflossen sein, von denen mindestens eine Million Kinder einen Nutzen ziehen konnten. Die Roger Federer Foundation wird von Partnern, Privatpersonen, Spendern und Sponsoren unterstützt.