«Die Wirtschaft trägt auch eine gesellschaftliche Verantwortung»

8.07.2019

Benno Singer ist CEO des Ingenieurbüros ewp mit Niederlassungen in den Kantonen Zürich, Schwyz, Graubünden und St. Gallen. Der diplomierte Bauingenieur ETH setzt den Fokus im Unternehmen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. «Zufriedene Angestellte sind matchentscheidend», sagt der 55 Jahre alte Vater von drei fast erwachsenen Söhnen. Wie er das macht, verrät der READY!-Botschafter im Interview.

Benno Singer, CEO und VR-Präsident ewp Holding AG
Benno Singer, CEO und VR-Präsident ewp Holding AG

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Benno Singer: Als ich dreieinhalb Jahre alt war, bekam ich neue Ski zu Weihnachten geschenkt. Ich wollte sie in unserem Garten sofort ausprobieren. Mein Vater präparierte mir eine kleine, etwa 15 Meter lange Rund-Piste, auf der ich meine Ski ausprobieren konnte. Sie kam mir unendlich lang vor und der Schnee so hoch. Wenn ich heute im Garten stehe, denke ich unweigerlich an meine ersten Skiversuche zurück.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Das heisst für mich, mit Kindern die ersten Schritte zu machen, ohne sie dabei stets an der Hand zu nehmen. Es ist wichtig, dass sie selbst laufen können. Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern bedeutet, ihnen Freiheit zu geben, sie experimentieren und auch mal stolpern zu lassen. Natürlich muss man Kindern Grenzen setzen, aber ich finde es bedeutsam, dass sie etwas ausprobieren, etwas nachmachen – oder auch nicht.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in Ihrem persönlichen Umfeld wahr?
Es ist eine Gratwanderung, gemeinsamen und individuellen Bedürfnissen gleich viel Platz einzuräumen, sodass niemand in der Familie das Gefühl hat, zu kurz zu kommen. Dieser Balanceakt erfordert ein dauerndes Aushandeln und Diskutieren.

Haben Sie ein Rezept dafür?
Nein. Ich bemühe mich einfach, das Wochenende prinzipiell für meine Familie zu reservieren. Unter der Woche haben wir kleine Inseln für individuelle Ansprüche geschaffen. So spiele ich am Freitagabend jeweils Volleyball, meine Frau Kathrin probt am Montagabend mit dem Orchester. Das ziehen wir seit Jahrzehnten durch. Man sollte auch nicht jede Sekunde seines Lebens verplanen, sondern Zeitpuffer schaffen und auch einmal die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund stellen, damit man sich um spontane dringende Anliegen anderer kümmern kann.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Die Zusammenarbeit mit anderen engagierten Akteuren gibt mir das gute Gefühl, gemeinsam einen Schritt weiterzukommen und etwas bewegen zu können.

Was tun Sie in diesem Bereich konkret in Ihrem Unternehmen?
Im Unternehmen setze ich den Fokus auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir fördern flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten; wir bieten Home- beziehungsweise Mobile-Office – auch für unsere Führungskräfte. Blockzeiten haben wir fast vollständig abgeschafft. Unsere Mitarbeitenden wissen diese Flexibilität und die hinzugewonnene Zeitautonomie sehr zu schätzen. Das verschafft ihnen mehr Freiräume. Natürlich erfordert dieses Arbeitszeitmodell eine gute Organisation und gegenseitige Rücksichtnahme. Bei uns arbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus drei Generationen – und jede Generation hat andere Bedürfnisse. Wir haben rasch gemerkt: Es gibt heute kein Standard-Arbeitszeitmodell mehr, das allen gleichermassen gerecht wird. Aber: Flexibilität schätzen alle.

Wie sieht es in Ihrem Unternehmen mit grosszügigerem Vaterschaftsurlaub aus, ist das ein Thema?
Vor fünf Jahren haben wir einen einwöchigen bezahlten Vaterschaftsurlaub eingeführt. In der traditionell geprägten Ingenieur- und Planer-Branche war dies recht fortschrittlich und wurde nicht von allen verstanden. Uns liegt auch das Wohl unserer Mitarbeiterinnen am Herzen. Wir finanzieren einen Mutterschaftsurlaub zu 100 Prozent, denn wir wollen, dass die Mitarbeiterinnen nach der Pause ins Unternehmen zurückkehren – allenfalls mit reduzierten Pensen, je nach ihren Anliegen.

Sind betriebseigene Tagesstätten in Ihrem Unternehmen ein Thema?
Wir haben auch mehrere kleine Niederlassungen, wo zwischen fünf und zehn Leute arbeiten. Dort sind sie kein Thema, weil wir einfach zu klein sind. Uns ist bekannt, dass Eltern ihre Kinder lieber in der Nähe ihres Wohnortes wissen als im Unternehmen. Das erhöht die Flexibilität für den Fall, dass etwas dazwischenkommt. Deshalb sind wir von der Idee abgekommen, betriebseigene Tagesstätten zu schaffen. Wir haben auch darüber nachgedacht, uns finanziell an Krippenplätzen zu beteiligen, diese Idee aber wieder verworfen. Auch um keine endlosen Diskussionen über Ansprüche weiterer Gruppen führen zu müssen. Was ich aber spannend finde: Sobald etwas staatlich geregelt ist wie etwa die Kinderzulagen, wird es diskussionslos hingenommen. Man könnte darüber nachdenken, familienergänzende Betreuung über einen Kinderbetreuungsfonds zu finanzieren.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut – können Sie ein Beispiel nennen?
In der Schweiz sind wir Weltmeister in der Analyse. Wenn es allerdings um Massnahmen geht, wie die frühe Förderung finanziert werden sollte, hapert es. Der Bund übt im Bereich der frühen Kindheit eine Vorbildfunktion aus – seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können von attraktiven Anstellungsbedingungen profitieren, die es ihnen ermöglichen, die richtige Balance zwischen Beruf und Familie zu finden.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf – was funktioniert in diesem Bereich nicht optimal und müsste verbessert werden?
Der Vaterschaftsurlaub müsste staatlich geregelt werden und deutlich länger als einen Tag dauern. Der Staat muss in diesem Bereich Verantwortung übernehmen. Im Moment stehen verschiedene Modelle zur Diskussion. Wir gewähren unseren Mitarbeitern wie gesagt einen einwöchigen Vaterschaftsurlaub. Was wir feststellen: Die meisten jungen Väter haben das Bedürfnis, einen zwei- bis dreiwöchigen Urlaub zu beziehen. Für die fehlende Zeit setzen sie dann Ferien ein, obwohl Ferien eigentlich zum Erholen da sind. Vaterschaftsurlaub kann keineswegs mit Ferien gleichgesetzt werden.

Sie wollen, dass der Staat Verantwortung übernimmt. Wie soll er das machen – die Volksinitiative fordert vier Wochen Vaterschaftsurlaub, der Bundesrat setzt beim Vaterschaftsurlaub auf Arbeitgeber und Sozialpartner?
Der Staat hat meines Erachtens die Aufgabe, einen geregelten Vaterschaftsurlaub nicht nur einzuführen, sondern auch dessen Finanzierung sicherzustellen. Das könnte über die Erwerbsersatzordnung (EO) geschehen – so wie beim Mutterschaftsurlaub.

In welcher Verantwortung sehen Sie die Wirtschaft?
Auch die Wirtschaft steht in der Pflicht – wie die Mitarbeitenden und der Staat –, einen Teil der entstehenden Kosten zu finanzieren. Die Wirtschaft trägt auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Sie muss kulturelle Voraussetzungen schaffen, dass niemand stigmatisiert wird, nur weil sie oder er ein Recht einfordert, das ihr oder ihm zusteht.

Wie meinen Sie das?
Es braucht eine entsprechende Unternehmenskultur, um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern. Ein flexibler Umgang mit den Präsenzzeiten ist der richtige Ansatz. In diesem Bereich ist die Führung gefordert. Sie darf nicht erwarten und schon gar nicht verlangen, dass Mitarbeitende dauernd zu erreichen sind. Und Mitarbeitende dürfen dies im Gegenzug auch nicht von ihren Vorgesetzten erwarten.

Wie machen Sie das in Ihrem Unternehmen?
Ich lebe diese Philosophie vor. Ich habe in der Unternehmensleitung ein E-Mailverbot am späten Abend und für das Wochenende ausgesprochen – ausser im Notfall. Ich selbst will nicht zum Getriebenen werden. Deshalb empfange ich keine E-Mails auf dem Smartphone. Und wissen Sie was? Ich bin ganz gut gefahren damit.

Was sagen Sie dazu, wenn jemand behauptet: «Ein KMU kann es sich gar nicht leisten, Teilzeitstellen oder einen bezahlten Vaterschaftsurlaub anzubieten?»
Teilzeitstellen anzubieten ist eine Frage des Willens und der Organisation. Natürlich müssen entsprechende Kompromisse eingegangen werden. Aber: Zufriedene Angestellte sind matchentscheidend, ein wertschätzendes Arbeitsklima färbt auch auf die Kunden ab.

Ihr Unternehmen beschäftigt 200 Mitarbeiter. Nimmt bei Ihnen ein Mitarbeiter Vaterschaftsurlaub und anschliessend Ferien, lässt sich diese Auszeit irgendwie kompensieren. In einem kleinen Betrieb mit zum Beispiel fünf Mitarbeitenden müsste diese Person jedoch durch eine andere ersetzt werden. Und das können sich viele KMU nicht leisten. Was sagen Sie dazu?
Einzelne unserer Niederlassungen kann man mit KMU vergleichen. Unser Vorteil ist es, dass wir über die ganze ewp-Gruppe Stellvertretungen sicherstellen. Ich mache eine gewagte Aussage: Als KMU würde ich versuchen, Kooperationen mit anderen Betrieben – auch Mitbewerbern – einzugehen. Bei Kapazitätsengpässen könnte man sich beispielsweise gegenseitig mit Personal aushelfen. Ein Vaterschaftsurlaub kündigt sich ja an. Wir handhaben dies genauso bei unseren Lernenden. Statt sie ausschliesslich innerhalb der ewp-Gruppe zirkulieren zu lassen, geben wir ihnen bei Bedarf die Möglichkeit, Erfahrungen bei einer anderen Firma zu machen. Selbstverständlich bieten wir dann das Gleiche für die Lernenden des Partnerbetriebs.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
In die frühe Kindheit zu investieren und damit Chancengerechtigkeit für alle zu schaffen, lohnt sich allein schon aus wirtschaftlichen Gründen, denken Sie mal an die Folgekosten, die gespart werden können. In die frühe Kindheit zu investieren und damit eine familienergänzende Kinderbetreuung zu ermöglichen heisst aber auch, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherzustellen, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen und somit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Autor: Thomas Wälti