«Eine bessere Politik der Frühen Kindheit stärkt unser Schulsystem»

16.11.2020

READY!-Botschafterin Dagmar Rösler amtet seit August 2019 als oberste Lehrerin der Schweiz. Zahlreiche Erfahrungen als Lehrerin haben ihr die Dringlichkeit besserer Angebote im Frühbereich bestätigt. Im Interview erklärt sie, warum sie sich eine starke Rolle von Politik und Wirtschaft in den Diskussionen um die Frühe Kindheit wünscht und warnt vor Konsequenzen im Schweizer Bildungssystem aufgrund der Zunahme von schlecht integrierten Kleinkindern.

Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH
Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH

Inwiefern hat Ihre Frühe Kindheit geholfen, dass Sie das sind, was Sie heute sind?
Meine Eltern haben mir in meiner Kindheit viel Raum und Freiheit gegeben: Im Dunkeln Versteckspielen, auf dem Heustock herumspringen. Ich habe meine Kindheit als sehr unbeschwert erlebt und durfte früh selbständig werden, das hat mir in meinem Leben sicher geholfen. Ich glaube auch, dass Kinder innerhalb einer Familie meist eine spezifische Rolle einnehmen und sich Geschwister dadurch anders entwickeln. Das habe ich bei meiner älteren und jüngeren Schwester so erlebt.

Worauf haben Sie geachtet, als Ihre Töchter Kleinkinder waren?
Ich wollte sie vor allem nicht mit einer falschen Erwartungshaltung unter Druck setzen, sondern ihnen Zuversicht und Urvertrauen geben. Auch war es mir wichtig, dass sie Erfahrungen mit all ihren Sinnen machen konnten. Wir waren viel draussen, sie hatten regelmässigen Kontakt zu Tieren, viel Bezug zur Natur, durften oft mit anderen Kindern spielen. Ich machte als Mutter vieles auch intuitiv, in dem ich versuchte mich zu erinnern, welche Bedürfnisse ich als Kind hatte. Aber natürlich haben dabei auch die Erfahrungen und das Wissen als Lehrerin eine Rolle gespielt.

Die Coronakrise und einschneidende Schutzmassnahmen sind zurück: Was bedeuten diese für die Entwicklung unserer Jüngsten?
Wir erleben neue Einschränkungen, gerade auch im Freizeitverhalten. In bildungsfernen Familien fehlt manchmal die Fantasie für Alternativprogramme, was zu noch mehr Bildschirmzeit führt. Die Bildungsschere, die sich bereits im März gezeigt hat, kann sich dadurch akzentuieren. Deshalb haben Lehrerinnen und Lehrer während des Lockdowns die wichtige Aufgabe gehabt, Kinder mit wenig Möglichkeiten anzuregen und sinnstiftende Aktivitäten aufzuzeigen. Gestaltungsideen, Spiele für draussen oder auch musikalische Inputs.

Warum engagieren Sie sich im Thema, was bedeutet es Ihnen, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Als Lehrerin habe ich immer wieder erlebt, wie entscheidend es ist, auf welcher Erfahrungsbasis Kinder aufbauen können. Die Sprache ist ein wichtiges Thema, aber auch soziale Kompetenzen. Einige Kinder kommen in die Schule und wissen nicht, wie sie sich in Gruppen verhalten sollen. Oder sie bekunden Mühe, wenn ihnen nicht sofort die volle Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch mangelnde Naturerfahrungen prägen. Es gibt Kinder, die zum Beispiel Zeit ihres Lebens nie in einem Wald waren oder nicht wissen, wie sich Erde, anfühlt oder wie unsere Welt funktioniert. Das erschwert den Lernunterricht, wenn nicht auf grundlegende Erfahrungen aufgebaut werden kann.

Was sind die wichtigsten Ansätze, um dem entgegenzuwirken?
Die frühe Sprachförderung ist zentral. Sprache ist das Tor zur Erziehung und Bildung. Auch Besuchsprogramme helfen, um Familien aufzuzeigen, wie Kinder angeregt werden können. Zudem sind Angebote wichtig, die Isolation vorbeugen. Kindern muss die Möglichkeit geboten werden, in Gruppen mit anderen in Kontakt zu kommen.

Macht es Sinn, dass unser Schulsystem erst bei 5 Jahren ansetzt?
Das ist eine schwierige Frage. Das Modell, wonach die Frau sich um Kind und Haus kümmert, ist noch immer stark in unserer Gesellschaft verankert. In Schweden zum Beispiel ist das ganz anders. Die Rolle der Hausfrau wurde viel weniger lange gelebt, weil die Industrialisierung später erfolgte und die Kirche eine weniger dominante Rolle in der Gesellschaft gespielt hat. Zwischen 1 und 3 Jahren finden aber enorm wichtige Entwicklungen statt. Wenn ein Kind nun, aus welchen Gründen auch immer, von zu Hause aus zu wenig gefördert werden kann, entstehen Defizite, die später auch in der Schule kaum mehr ausgebügelt werden können.

Ist das ein Appell in Bezug auf mehr Unterstützung durch die Gesellschaft?
Absolut. Kognitive Fähigkeiten zu erlangen sind das eine. Aber es geht selbstverständlich in der Frühen Kindheit auch um soziale Kompetenzen und den integrativen Aspekt. Kinder, die in frühen Jahren zu wenig Austausch mit Gleichaltrigen erleben, haben es beim Kindergarteneintritt sehr schwer. Diese Defizite haben markant zugenommen in den letzten Jahren und werden auch in den weiterführenden Schulstufen nicht mehr vollumfänglich aufgefangen, wenn wir hier nicht korrigieren. Eine bessere Politik der Frühen Kindheit stärkt also auch unser Schulsystem.

In einigen Kantonen wird doch bereits Vieles gemacht.
Es gibt gute Beispiele. Basel-Stadt oder auch die Stadt Grenchen haben gute Sprachförderungsprogramme angestossen. Zürich und Zug oder auch andere Kantone sind hier auch schon weit und ich erkenne, dass viele Kantone nachziehen und ebenfalls einen guten Aufbau in der frühen Förderung leisten. Problematisch sind die grossen regionalen Unterschiede und der Stadt-Land-Graben.

Von welchen politischen Diskussionen erhoffen Sie sich am meisten?
Die aktuell intensive Diskussion zum Thema gibt mir Hoffnung. Steter Tropfen höhlt den Stein. Nationalrat Matthias Aebischer zum Beispiel hat mit seiner parlamentarischen Initiative schon mehrmals Rückschläge erlitten, aber er bleibt dran. Und das ist ja nicht der einzige politische Vorstoss, der am Laufen ist. Darüber hinaus braucht es aber vor allem eine kohärentere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen föderalen Ebenen und eine stärkere, steuernde Rolle von Seiten des Bundes. Und auch unsere Wirtschaft sollte mithelfen, mit flexiblen Arbeitsmodellen, sowie mit finanziellem Beitrag für eine bessere, qualitative Kinderbetreuungsinfrastruktur. Apropos Qualität: Wir haben im Schulsystem klar erkannt, dass Angebote nur etwas bringen, wenn wir auch die Qualität sicherstellen. Das umfasst Angebote und Personal. Es gilt für gute Ausbildung und Anstellungsbedingungen zu sorgen.

Sie stehen in Kontakt mit der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und Erziehungsdirektoren (EDK) – wie schätzen Sie die Arbeit der Konferenz im Thema ein?
Die EDK hat sich zusammen mit der SODK (Anm. d. Red.: Schweizerische Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren) der Thematik angenommen. Das ist sehr erfreulich! Die jüngste Medienkommunikation war ermutigend. Auch der Bericht zur Strategie der frühen Kindheit des Bundesrats kann einen Beitrag leisten auf dem Weg zu einer einheitlicheren Vorgehensweise. Der Bund sollte generell den Rahmen deutlicher abstecken. Es kann nicht sein, dass ein bedarfsgerechtes Angebot geschaffen werden soll, die Kantone dann die Verantwortung den Gemeinden übergeben, die dann wiederum aber den Bedarf gar nicht abklären und sich so aus der Verantwortung schleichen.

Und auch mitfinanzieren?
Ja, das gehört dann natürlich auch dazu. Es darf nicht an den Finanzen scheitern, dafür ist das Thema zu wichtig. Aus meiner Sicht sollte der Schwerpunkt der Finanzierung beim Bund und den Kantonen liegen.

Abschliessend: Was ist ihr Wunsch im Thema Frühe Kindheit?
Dass die Wichtigkeit von Familien sowie der Förderung von Kindern aus bildungsfernen Schichten für unsere Zukunft breit erkannt wird. Allgemein sollten Familien einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft erhalten.

Autor: Claudio Looser